An der Basler 1. Mai-Feier tritt die Syriza-Aktivistin Aleksandra Pavlou als Rednerin auf. Im Interview spricht sie über Ursachen und Wirkungen der griechischen Schuldenkrise, die neue Regierung und ihre Hoffnungen in die Zivilgesellschaft des gebeutelten Landes.
Ein Dolmetscher erübrigt sich bei unserem Treffen mit Aleksandra Pavlou. Die Syriza-Aktivistin und Gastrednerin der Unia-Jugend Nordwestschweiz am 1. Mai ist eigentlich Übersetzerin und kann perfekt Deutsch.
Doch zurzeit gibt es für sie in Griechenland nicht viel zu übersetzen. Wegen den Sparmassnahmen, zu denen die Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) Griechenland im Gegenzug für die sogenannten Rettungspakete gezwungen hat, liegt mittlerweile ein Viertel der griechischen Wirtschaft lahm.
Die 51-jährige Athenerin ist deshalb zurzeit ohne Einkommen. Was sie von den Lebensbedingungen in Griechenland berichtet, ist erschütternd. Dennoch: Von Verbitterung oder Resignation ist bei ihr nichts zu spüren. Im Gegenteil. Stolz und voller Enthusiasmus und Hoffnung erzählt sie, wie die Solidarität unter den Griechen wächst und wirkt und welche Hoffnungen sie in die neue Regierung setzen.
Frau Pavlou, als selbstständige Übersetzerin waren Sie vermutlich einen eher mittelständischen Lebensstil gewohnt. Wie wirken sich die Sparmassnahmen auf Ihr Leben aus?
Wegen der Schuldenkrise und der erzwungenen Austeritätspolitik mussten in Griechenland 230’000 kleine und mittlere Unternehmen schliessen. Darunter auch Kleinstunternehmen wie meines. Im Gegensatz zu Angestellten haben Selbstständige und Unternehmerinnen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Ich habe also gar kein Einkommen und schlage mich wie der Grossteil der Griechen irgendwie durch. Die Zahl der Menschen ohne Einkommen wächst täglich – und rasant.
Wie das?
Als Gegenleistung für das angebliche Hilfspaket der Troika wurde Griechenland 2009 ein restriktives Sparprogramm aufgezwungen. Das führte unter anderem zu Massenentlassungen. Heute sind etwa ein Drittel der erwerbsfähigen Griechinnen und Griechen arbeitslos. Bei den unter 25-Jährigen sogar 51 Prozent. Gleichzeitig wurde das Arbeitslosengeld auf 400 Euro im ersten Jahr und 200 Euro im zweiten gekürzt. Davon kann niemand leben. Ab dem dritten Jahr gibt es nichts mehr und man ist auch nicht mehr krankenversichert. Übrigens beziehen nur 14 Prozent aller Erwerbslosen Arbeitslosengeld. Auch die, die noch eine Stelle haben, halten sich nur mit Mühe über Wasser, weil die Löhne um bis zu 40 Prozent gekürzt wurden. Deshalb sind die bis zu 45-prozentigen Rentenkürzungen auch eine derartige Katastrophe.
Was haben die Renten mit der Situation der Arbeitslosen oder Erwerbstätigen zu tun?
In Griechenland ist es Tradition, dass Rentner ihre Kinder und Enkel finanziell unterstützen, statt wie anderswo umgekehrt. Jetzt geht das auch nicht mehr. 20 Prozent der Griechen können sich nicht einmal mehr ausreichend ernähren.
Aber trägt das Hilfspaket von 130 Milliarden Euro nicht irgendwelche Früchte?
(Lacht) Hilfspaket? Erstmal sind es verzinste Kredite. Und die wurden fast vollständig dafür aufgewendet, um deutsche und französische Grossbanken wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen. Die Situation war ja bei der Bankenkrise in ganz Europa ähnlich. Privatwirtschaftliche Banken hatten sich verspekuliert und der Staat musste Kredite aufnehmen, um die «systemerhaltenden» Banken wieder flüssig zu machen. Zurückzahlen müssen die Kredite die griechischen Steuerzahler.
Das widerspricht dem vor allem in Deutschland verbreiteten Vorurteil, dass die deutschen Steuerzahler die Griechen finanzieren.
Das Einzige, was daran stimmt, ist, dass in der EU und vor allem Deutschland und Frankreich tatsächlich die einfachen Steuerzahler zur Kasse gebeten werden. Der Witz ist, dass die EZB und Deutschland bereits Gewinne mit den griechischen Staatsanleihen und den Zinszahlungen für die Kredite machen. Die werden natürlich nicht nach unten weitergeleitet. Genausowenig, wie die sogenannte Hilfe bei den einfachen Griechen ankommt. Aber wir müssen die Folgen ausbaden.
Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hat das Hilfspaket als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» bezeichnet. Das sind ziemlich harte Vorwürfe an einen Kreditgeber.
Und er hat damit vollkommen recht. Varoufakis hat auch gesagt – und das weiss eigentlich jeder, der es wissen will –, dass Griechenland diese Kredite niemals zurückzahlen kann. Wie so manches Land in der Dritten Welt würde Griechenland allein durch die Zinszahlungen an den Anschlag geraten. Und die Gebernationen kassieren auch dann noch Zinsen, wenn die Schulden faktisch schon längst zurückbezahlt sind. Nach unserer Auffassung versucht die Troika aus Griechenland eine Schuldenkolonie zu machen. Griechenland soll zur «wirtschaftlichen Sonderzone» werden. Die Mindestlöhne sollen auf 300 Euro gekürzt, der Kündigungsschutz abgeschafft, die gesamte Infrastruktur privatisiert werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: 14 staatliche Flughäfen sollen für einen Schleuderpreis dem deutschen Flughafenbetreiber Fraport (mit Beteiligung des deutschen Bundeslandes Hessen – Anm. d. R.) für 1,2 Milliarden Euro für 40 Jahre verschleudert werden. Auf zehn pensionierte Ärzte soll nur ein neuer ausgebildet werden. Investiert werden soll nur in den Sicherheitsapparat wie das Militär und ein neues Hochsicherheitsgefängnis, das ja jetzt von der neuen Regierung verhindert wurde.
Aber war die griechische Staatsquote nicht tatsächlich viel zu hoch?
Auch wieder so eine Legende: der angeblich überdimensionierte öffentliche Sektor in Griechenland. Es besteht massiver Ausbaubedarf. Allein im Gesundheitswesen fehlt es an 250’000 Fachkräften. Die Krankenhäuser sind so überfüllt, dass bei bettlägerigen Patienten die Angehörigen 24 Stunden bei der Pflege helfen müssen. Ein Grossteil der Patienten liegt auf den Korridoren, weil die Krankenzimmer aus allen Nähten platzen. Dabei haben schon 30 Prozent der Griechen keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung. Es fehlt an Lehrern und Schulen.
Wieso lassen sich die Griechen das gefallen?
Oh, das lassen sie sich keineswegs gefallen. Als sich die Entwicklung abzeichnete, protestierten vor allem Linke und Gewerkschaften. Als die Auswirkungen der Sparmassnahmen langsam spürbar wurden, mobilisierten und politisierten sich Millionen von Griechen aus allen Bevölkerungsschichten und schlossen sich der Protestbewegung an.
Von der man spätestens seit den Neuwahlen nichts mehr hört.
Die aber immer noch aktiv ist. Aus der Demonstrationswelle sind die Volksversammlungen und die Solidaritätsinitiativen mit Hunderttausenden von Aktiven entstanden.
Wie muss man sich die vorstellen?
Ich selber arbeite, wie alle, ehrenamtlich in einer Solidaritätsklinik, wo die Leute so gut wie möglich versorgt werden. Bei ernsteren Sachen oder komplizierten Diagnosen helfen uns Privatärzte und -kliniken, die einen Teil ihrer Patienten gratis behandeln. Wir sammeln vor Supermärkten Nahrungsspenden, geben Nachhilfeunterricht, juristische Hilfe und bekämpfen die perfide Grundsteuer.
Was ist das?
Ebenfalls eine Schikane der Troika. Ich zum Beispiel musste früher eine Grundsteuer von 25 Euro bezahlen. Sie war einkommensabhängig. Jetzt muss jeder Grieche, ob er Geld hat oder nicht, 520 Euro Grundsteuer bezahlen. Mehr als einen Mindestlohn!
Wie sollen denn die Leute ohne Einkommen solche Steuern bezahlen?
Das wird an die Stromrechnung gekoppelt. Bezahlt man die Grundsteuer nicht, wird der Strom abgestellt. Das ist übrigens auch der Fall bei medizinischen Notfällen. Die Spitäler können einen Menschen mit Herzinfarkt oder ein Unfallopfer ja nicht einfach auf die Strasse werfen. Aber die Rechnung wird dann auf die Steuern – also auf die Stromrechnung geschlagen.
Was kann man dagegen tun?
Eine unserer Solidaritätsinitiativen schliesst heimlich und illegal die Haushalte wieder an die Stromversorgung an. Und schliesslich verhindern wir die Zwangsversteigerungen von Häusern und Wohnungen. An den betreffenden Tagen blockieren wir einfach die Eingänge der Gerichtsgebäude. Diese Solidaritätsinitiativen sind eine Massenbewegung über ideologische Gräben und gesellschaftlichen Status hinweg. Die Menschen geben die Initiative nicht aus der Hand. Als zum Beispiel die Waschmittelfabrik Viome geschlossen wurde, hat die Belegschaft einfach illegal weiterproduziert und ohne Zwischenhändler verkauft. Mittlerweile konnten wir die Fabrik als Genossenschaft legalisieren.
Die Ansage der Syriza bei der Wahl war klar: Schuldenschnitt oder Zahlungsstopp. Die Europäische Zentralbank hingegen verlangt, dass die Regierung die Sparmassnahmen noch verschärft. Jetzt wird heftig verhandelt. War der Schuldenschnitt nur ein leeres Wahlversprechen?
Es wird wohl auf einen Kompromiss hinauslaufen. Aber wenn der nicht deutliche Verbesserungen mit sich bringt, hat Regierungschef Tsipras ein Referendum in Aussicht gestellt. Bis jetzt weiss noch niemand, ob es um einen allfälligen Austritt aus der Eurozone, vielleicht sogar der EU geht. Oder um einen Zinsboykott. Keiner weiss, was passiert, wenn die Bevölkerung beschliesst, die Zahlungen einzustellen. Sicher ist nur, dass es so in einem Land mitten in Europa nicht weitergehen kann.
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Syriza-Aktivistin Aleksandra Pavlou tritt am 1. Mai ab 11 Uhr in Basel auf dem Marktplatz als Rednerin auf. Mehr zu den Rednerinnen und Rednern.