Alexandra hat schlechte Laune

Südafrikas älteste Township wird hundert Jahre alt. Doch auch wenn «Alex» zum runden Geburtstag hübsch gemacht wird: Grund zum Feiern haben nur wenige.

Strassenszene in «Old Alex», mitten in der Township. (Bild: Samuel Schlaefli)

Südafrikas älteste Township wird hundert Jahre alt. Grund zum Feiern haben nur wenige.

Während kurz nach Feierabend die Sammeltaxis um Kundschaft hupend ihre letzten Runden drehen, beginnen sich die ­«Shebeens» zu füllen, die Barackenkneipen entlang der Selborne und John Brand Street. In den besseren werden Fetzen von Schweinefleisch oder blutige Würste gegrillt, es gibt billiges Bier und Musik. Aus massigen Laut­sprechern dröhnt Kwaito und Deep House. Es liegt ein Geist von Gemeinschaft in der Luft; man kennt sich und weiss den harten Alltag in Alkohol, Musik und Geselligkeit zu ertränken.

Nelson Mandela, der hier in den 1950er-Jahren seine ersten Studienjahre verbrachte, schreibt in seiner Auto­biografie: «Trotz den höllischen Aspekten Alexandras war die Township auf eine Art auch himmlisch.»

Am Rande des Kollapses

Alexandra wurde 1912 von schwarzen Arbeitern auf einem minderwertigen Stück Land gegründet. Heute liegt die Township inmitten von Johannesburg und nur 15 Minuten Autofahrt von Sandton entfernt, dem schicksten Einkaufs- und Geschäftsviertel der Stadt. Dieses Jahr wird das hundertjährige Bestehen gefeiert – gleich­zeitig mit dem 100-Jahr-Jubiläum des African National Congress (ANC). Viel verbindet die Township mit dem ANC und der Geschichte Südafrikas. Viele Befreiungskämpfer wuchsen in Alexandra auf. Die Township ist bis heute politisch fest in ANC-Hand.

Für die meisten Menschen dominieren heute die «höllischen Aspekte» der Township, denn es ist eng und dreckig geworden in Alexandra. Aus­ser den beiden grossen Friedhöfen gibt es praktisch keinen unbebauten Raum mehr. Früher hatten die Landlords, die Grundstückeigen­tümer, noch die Kontrolle über ihre «yards», Landparzellen von 50 bis 150 Quadratmetern. Darauf stand meist ein einfaches Backsteinhaus für die Familie des Grundeigentümers. Heute teilen sich denselben Raum oft acht Familien mit durchschnittlich fünf Kindern. Die Stadtverwaltung von Johannesburg zählte 360’000 Menschen in Alexandra, die Unesco schätzt bis zu 500’000 – auf einer Fläche­ von 7,6 Quadratkilometern. Das entspricht etwa der Bevölkerung der Stadt Zürich – auf einem Zwölftel ihrer Fläche.

Die Infrastruktur, ursprünglich für 60’000 Menschen ausgelegt, ist heillos überlastet. Bewohner erzählen von ­explodierenden Stromverteilern und brennenden Blechbaracken. Die Enge, die Arbeitslosigkeit und die ­miserable Behausung sind sozialer Sprengstoff. 2008 begann in Alexandra ein ­Pogrom gegen ausländische Afrikaner, das sich wie ein Lauffeuer in ganz Süd­afrika ausbreitete. 62 Menschen wurden getötet.

Setswetla – der Ort, den es nicht gibt

Einer dieser Brandherde liegt am Ufer des Jukskei. Der Fluss trennt Old Alex, das alte Zentrum, von der Far East Bank im Osten. Dort liegt Set­swetla, eine der ärmsten illegalen Siedlungen in der Township. Laut ­offizieller Verlautbarung der Stadtverwaltung gibt es Setswetla gar nicht mehr. Tausende von Familien wurden nach Far East Bank umgesiedelt. Doch der Zustrom von Flüchtlingen hält an. Hunderte, vielleicht Tausende, leben bis heute hier. Am Rand der Siedlung dümpeln Dreckhaufen, in denen mobile Plastiktoiletten stehen. Am Flussufer ruhen Backsteinfundamente ohne dazugehörige Hütten. Sie wurden vom Fluss weggespült.

In Setswetla treffe ich den 26-jährigen Aleck. Er flüchtete 2004 aus dem Nachbarstaat Simbabwe. Seine Frau und seinen dreijährigen Sohn hat er zurückgelassen auf der Suche nach Arbeit, die er bis heute nicht ­gefunden hat. Er führt mich vorbei an Wellblechplanen, die wie Karten­häuser zu Hütten aufgestellt sind. Die Wände abgedichtet mit Plastik, die Blechdächer beschwert mit Holz­latten und Autoreifen.

Alecks «Shack» ist so gross wie eine Toilette in der Schweiz, hat weder Strom noch Wasser. Ein Bett, das er mit seinem Bruder teilt, ein Gestell mit einem Terpentinkocher und einer Pfanne, etwas Besteck, eine Büchse «Mielie-meal», Maismehl, aus dem von Kenia bis Südafrika «Pap», ein nahrhafter Brei, gekocht wird – das ist Alecks gesamtes Hab und Gut.

Natürlich habe er Angst gehabt, damals während der Ausschreitungen von 2008, erzählt Aleck. Aber Rassismus habe er in Setswetla nie erlebt. Viele in Alexandra glauben, dass die angeblich xenophoben Attacken von 2008 direkte Folge des Frusts über die jämmerlichen Lebensbedingungen und die Untätigkeit der Regierung waren. «Wir kämpfen täglich um nicht vorhandene Ressourcen», sagt Rama­tamo Wamatamong, Journalist bei der Lokalzeitung «Alex Pioneer». «Die Wohnsituation in Alex ist eine Zeitbombe. Es kann jeden Moment wieder zu einer Revolte kommen.»

Land ist Macht

Wie viele ihrer Mitmenschen sind Rama­tamo und Aleck die Versprechen­ der vom ANC dominierten Stadt­verwaltung leid. 2001 hat diese das Stadtentwicklungskonzept «Alexandra Renewal Project» (ARP) lanciert. Viel wurde versprochen: mehr Arbeitsplätze, weniger Kriminalität, neue Häuser. Der frühere Präsident Thabo Mbeki stattete das Projekt mit 1,3 Milliarden Rand (rund 170 Millionen Dollar) für die ersten sieben Jahre aus. Unter der aktuellen Regierung Jacob Zumas erhielt das ARP weitere Finanzspritzen von insgesamt 600 Millionen Rand.

14’500 neue Häuser wurden seither gebaut, 45’000 werden den ARP-Planungen zufolge benötigt. Das Projekt hinkt dem ursprünglichen Terminplan hinterher. Mehrere involvierte ANC-Mitglieder stehen wegen Korruption vor Gericht, andere wurden aus fadenscheinigen Gründen freigestellt. Nach einer anfänglichen Euphorie hat sich in der Township Resignation breitgemacht.

Opposition kommt mittlerweile von mehreren Organisationen. «Alexandra Property Owners Rights» (APOR) gehört dazu, eine Organisa­tion, die sich für Landeigentümer und gegen Enteignungen einsetzt. Die Landfrage ist für die Johannesburger Stadtverwaltung entscheidend. Sie benötigt die Rechte am Boden, um ihre Vorhaben auch gegen den Willen der Bewohner durchsetzen zu können.

Xenophober Mob

Die NGO «Bonafide» wiederum vertritt Leute, die seit Jahren auf ein Haus warten, das ihnen einst von der Regierung versprochen wurde. Im Oktober 2011 organisierte sie einen Protestmarsch. Auf Transparenten drohte der Mob, alle Nicht-Südafrikaner, die «durch Korruption» zu ihrem Zuhause gekommen seien, aus den Neubauten rauszuwerfen. Der ANC verurteilte die Aktion als Aufruf zur Xenophobie.

Nun hat «Bonafide» ihre Anschul­­digungen – Nepotismus, Korruption, Ein­satz von mangelhaften Baumaterialien, Bereicherung – auf nationale Ebene gehievt und Menschenrechtskommission sowie den Public Protector eingeschaltet. «Wenn wir nichts unternehmen, wird es zu weiteren Ausschreitungen kommen», prophezeit «Bona­fide»-Gründer Duma Kulashe.

Elf Jahre Arbeit, über 240 Millionen Dollar Investitionen – und trotzdem beklagen sich sämtliche Gesprächspartner über die Entwicklung der Township. Nicht nur die Leute von «Bonafide» und APOR, auch eine Horde Journalisten beim Commu­nity-Radio AlexFM, Taxifahrer, Gerichtsmediatoren und Rentnerinnen. Wie ist das möglich? Das wollen wir die Verantwortlichen fragen.

Plattmachen als Plan

Die ARP-Verwaltung sitzt in Wynberg, fünf Minuten Taxifahrt von Old Alex entfernt. Auf dem Parkplatz unter dem Pentad Building des ARP steht ein neuer Mercedes. Es ist nicht der einzige in Alex; auch Limousinen und Porsches kurven durch die Strassen. Nicht alle hier leben in Blechhütten und können sich nicht mehr leisten als eine Schüssel «Pap» am Tag.

Job Sithole, der Direktor des «Alexandra Renewal Project» und einstiger Aussenminister für den ANC, ist nicht zu beneiden. Sein Auftrag: aus­ser einigen historischen Bauten das gesamte Alex dem Erdboden gleichzumachen. Um die enorme Wohndichte zu senken, müsse er mindestens die Hälfte der Bewohner des Zentrums an die Peripherie umsiedeln, sagt er. «Aber diese Leute wollen nicht gehen.»

Sithole ist in Alex aufgewachsen, er kennt die Lebensumstände bestens. Doch die Klagen der Menschen, mit denen wir gesprochen haben, scheinen ihn nicht zu interessieren. «Die Mehrheit ist glücklich mit den Fortschritten.» Als Journalist müsse man nicht nur zuhören, sondern auch hinschauen. Dann würde man nämlich die Fortschritte im Zentrum sehen.

Leben im Monster

Wir gehen zurück durchs aufgeräumte Wynberg und dann hinunter ins überfüllte Old Alex. Hier gibt es sie, die Teerstrassen, Ampeln und Stromanschlüsse, von denen Sithole erzählt hat. Das «Madala Hostel» dagegen hatte er nicht erwähnt. Dieses Relikt des Apartheidregimes steht heute wie ein Monster im Zentrum von Alexandra. Die Fensterscheiben sind zerschlagen, die Fassade bröckelt. Es ist eines von drei während der 1960er-Jahre verwirklichten Hostels in Alexandra. 23 waren geplant, um die schwarzen Minenarbeiter ­Johannesburgs unterzubringen.

Noah Jaba, ein schmächtiger und scheuer Junggeselle, lebt seit einem Jahr hier. «Vor meinem Zimmer wird bei Stromausfall geraubt und gemordet», erzählt er. Noah kam aus der Nachbarprovinz KwaZulu-Natal. Er lebt, isst und schläft zusammen mit seinem Vater und dem jüngeren Bruder in einem Zimmer von acht Qua­dratmetern. Früher wohnten im «Madala Hostel» 2500 Männer, heute sind es etwas weniger, und auch Frauen und Kinder leben hier.

Best practice?

Im Treppenhaus stinkt es nach Urin. Aus einem gebrochenen Rohr fliesst Abwasser aus der Waschküche; wer nicht aufpasst, hat es auf dem Kopf. Der Elektrizitätskasten gleicht einer klaffenden Wunde, aus der sich Kabel in allen möglichen Farben wie Arterien und Sehnen hinausrecken. Die Küche ist eine dunkle Halle in grauem Beton: kein Stuhl, kein Tisch, kein Bild. Nur einige Gasherde und eine grosse Wasserlache, in die Wasser vom undichten Dach tropft.

Für die Planer des ARP sind die Hostels ein Erfolg. «Remodelled» seien sie geworden, heisst es in der Mitteilung der Johannesburger Stadtverwaltung zum 100-Jahr-Jubiläum; neu gestaltet, um Familien zu beherbergen. Die Hostels tauchen auch auf der UN-Habitat-Website auf, wo das ARP bis heute als «Best practice»-Beispiel im Bereich «Land and Housing» figuriert. Die Verlautbarungen müssen sich für Noah und die Bewohner des «Madala Hostels» wie Hohn anhören.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12

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