Die Initiative Pro Service public erfreut sich hoher Zustimmung, obwohl sämtliche Parteien und Verbände dagegen sind. Wir fragen uns: Wer hat recht?
Klar sind nur die Ziele der Initiative: Pro Service public will saubere Züge, mehr Postschalter, tiefere Preise fürs Internet. Solche Dinge, die jeder gut findet. Alles andere ist entweder völlig unklar oder heftigst umstritten. Denn die Gegner – bis auf den unvermeidlichen Roger Köppel sind alle Politiker, alle Parteien, Institutionen, alle Verbände gegen das Vorhaben – behaupten, die Initiative, über die am Sonntag abgestimmt wird, schwäche und verteure den Service public.
Ein Versuch, die grosse Verwirrung zu entknoten:
Woher kommt die Initiative?
Vom Sorgentelefon des «K-Tipps». Dessen Verlag gibt an, in den vergangenen Jahren eine hohe Zahl an Beschwerden erhalten zu haben. Manchen Lesern sind die Züge zu verschmutzt, zu spät dran oder schlicht zu teuer, andere beklagen den Verlust ihrer Dorfpost. Kritiker sagen: Der Verlag wolle damit bloss Aufmerksamkeit für seine Pressetitel erhalten.
Ist es denn um den Service public in der Schweiz so schlecht bestellt?
Ja, finden die Initianten und stützen sich dabei auf eine GfK-Umfrage ab. Diese soll herausgefunden haben, dass jeder Dritte die Toiletten in den Zügen als schmutzig empfindet, oder dass die Hälfte der Leute die Ticketpreise für zu hoch hält.
Nein, sagt dagegen der internationale Vergleich, den «swissinfo» gezogen hat. Die SBB belegen da europaweit den ersten Platz, was die Qualität ihrer Dienstleistungen betrifft. Auch die Schweizer Post zählt zu den zuverlässigsten und präsentesten Europas. Den besten Service public der Welt, wie Doris Leuthard schwärmt, hat die Schweiz vermutlich nicht, aber viel fehlt nicht.
Wie will die Initiative dafür sorgen, dass meine Post nicht verschwindet?
Das kann sie nicht. Der Versorgungsauftrag bleibt unangetastet. Im Fall der Post etwa verlangt dieser beispielsweise, dass für 90 Prozent der Bewohner die nächste Poststelle innert 20 Minuten zu Fuss oder mit dem ÖV zu erreichen ist. Die Post hat in den letzten 15 Jahren rund 1000 Poststellen geschlossen und in vielen Orten dafür Schalter in Läden eingerichtet. Gab es im Jahr 2000 noch 3383 Poststellen, waren es 2014 noch exakt 2222.
Was will dann die Initiative?
Die Initianten verlangen, dass in den Bereichen der Grundversorgung keine Gewinne mehr erwirtschaftet werden und in die Bundeskasse zurückfliessen. Sie betrachten derartige Praktiken als versteckte Steuern. Gewinne, die erwirtschaftet werden, sollen im Unternehmen bleiben und reinvestiert werden. Querfinanzierungen sind nur innerhalb der Grundversorgung möglich, damit etwa unrentable Postauto-Linien über profitablere Linien finanziert werden.
Die Urheber von Pro Service public vermuten, dass Gelder aus der Grundversorgung in andere Geschäftszweige abfliessen, beweisen können sie es nicht, weil über die Geldströme innerhalb der Firmen keine Transparenz herrscht. Auch das soll geändert werden.
Tönt doch super. Wo ist das Problem?
Die zahlenstarke Gegnerschaft kritisiert das Gewinn- und Querfinanzierungsverbot stark. So würden die Firmen zu Non-profit-Organisationen. Ohne eigene Gewinne könnten das Angebot und die Infrastruktur nur über zusätzliche Subventionen also Steuermittel verbessert werden.
Zudem würden die Gewinne der Swisscom und Post in der Staatskasse fehlen. Swisscom allein fuhr 2015 1,3 Milliarden Franken Reingewinn ein. Da der Bund 51 Prozent der Aktien hält, kassiert er Jahr für Jahr grosse Dividenden. Post und Swisscom liefern jährlich zwischen 600 und 800 Millionen Franken ab.
Aber nicht immer ist die Kalkulation einfach: Die SBB erwirtschafteten letztes Jahr im Personenverkehr 131 Millionen Franken Profit. Gleichwohl wird die Bahn mit rund 3 Milliarden Franken Subventionen unterstützt, die vor allem in die Infrastruktur fliessen. Also würden auch bei einem Ja zur Initiative kaum tiefere Ticketpreise herausspringen, da die Gewinne im Personenverkehr virtuell sind und die Bahn als Gesamtunternehmen hochdefizitär ist.
Wer hat also recht?
Die Argumente der Gegner sind nicht alle redlich. Das Gewinn- und Quersubventionsverbot ist nicht so sankrosankt gemeint wie behauptet. «Wir fordern nicht ein generelles Gewinnverbot, sondern dass die Gewinne aus dem Betrieb in den Service für das Gemeinwohl reinvestiert werden», sagt Initiant Peter Salvisberg. Und erhält Zuspruch der Staatsrechtler Urs Saxer und Rainer Schweizer: Die staatsnahen Betriebe würden wie Migros und Coop funktionieren. Die Gewinne könnten entweder in Rückstellungen fliessen oder müssten im Unternehmen in das Angebot reinvestiert werden. Wegfallen würde alleine die Ablieferung an den Staat.
Auch im Bereich der Querfinanzierung sehen es die Staatsrechtler entspannter als Bundesrätin Leuthard und Konsorten. Bergler befürchten, dass sie künftig zu kurz kommen. Selbstverständlich sei es auch weiterhin möglich, innerhalb der Grundversorgung Geld zu verschieben, meinen dagegen Initianten und Staatsrechtler. «Die Absicht der Grundversorgung ist es ja gerade, dass rentable Betriebsteile unrentable querfinanzieren», sagt der Zürcher Professor Saxer.
Nochmals: Wer hat recht?
Nun, die Probleme gründen im Text der Initiative, der viel zu schwammig formuliert ist und der Auslegung bedarf. Selbst die Initianten haben diesen Mangel erkannt. Insofern haben beide Seiten recht, wenn auch… siehe nächste Frage.
Könnte also das rechtsbürgerliche Parlament die Initiative nutzen, um die Grundversorgung zu schwächen, etwa indem rentable Geschäftsbereiche privatisiert werden?
Grundsätzlich ist das denkbar, weil der Initiativtext viel Interpretationsspielraum lässt und Bundesrat und Parlament mit der Umsetzung betraut sind. Faktisch ist eine Umsetzung, die dem erklärten Willen der Initianten widerspricht, aber nicht realistisch.
Als das Bundesgericht schlaumeierische Gemeinden nach Annahme der Zweitwohnungsinitiative stoppte, die sich auf eine Lücke im Verfassungstext beriefen, stützte es auf die Ausführungen der Initianten ab. Das Ausführungsgesetz übrigens entstand als Kompromiss in Abstimmung mit den Urhebern der Initiative.
Auch als der Zürcher Kantonsrat, eher dreist als schlaumeierisch, die vom Zürcher Stimmvolk bejahte Kulturland-Initiative für erledigt erklärte, schritt das Bundesgericht ein und stellte fest: «Zwar kommt dem Kantonsrat als Umsetzungsorgan eine gewisse Gestaltungskompetenz zu. Er hat aber eine Regelung zu treffen, die den in der Initiative zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen entspricht.»
Geht es bei Pro Service public nicht auch um Abzockerlöhne?
Ja, tut es, und da verlassen wiederum die Initianten den Pfad der Redlichkeit: Warum eine Deckelung der Löhne eine Stärkung des Service public bringen sollte, ist nicht nachvollziehbar. Aber die Forderung weckt natürlich Sympathien: Warum sollen hochsubventionierte Betriebe wie die SBB ihren Chefs derart fette Gehälter spendieren?
Hier zeigt sich Übrigens eine weitere Schwäche im Initiavtext: Gemeint sind laut Initianten nur die Löhne des Topkaders, das künftig nur noch maximal den Lohn eines Bundesrats erhalten würde. Dieser beträgt 475’000 Franken. Swisscom-Konzerleiter Urs Schaeppi brachte 2014 stolze 1,8 Millionen nach Hause.
Im Initiativtext jedoch steht wörtlich: «Der Bund sorgt dafür, dass die Löhne und Honorare der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Unternehmen nicht über denjenigen der Bundesverwaltung liegen.»
Eine Studie der Gegnerschaft ergab folglich, dass 8000 Angestellte eine Lohnkürzung erwartet. Post, Swisscom und SBB müssten ihre Lohnsumme demnach um 127 Millionen Franken runterfahren. Initiant Salvisberg weist die Studie zurück: «Es gibt rund 80 Leute, die mehr verdienen als ein Bundesrat. Das wollen wir deckeln.»
Okay, die Verwirrung ist gross. Gibt es denn wenigstens ein klares Abstimmungsergebnis?
Nein. Alles ist laut SRG-Trendbefragung offen. Noch ist der Ja-Anteil mit derzeit 46 Prozent höher als der Anteil der Nein-Stimmen (41 Prozent). Allerdings sprachen sich Mitte April noch 58 Prozent dafür auf. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Tamedia-Umfrage (Rückgang von 59 Prozent Ja auf noch 48 Prozent Ja).