Alle unsere Religionen

Pfingsten erinnert daran, wie der Heilige Geist den Aposteln Fremdsprachen einhauchte. Über Religion miteinander reden, einander vielleicht gar verstehen, bleibt aber bis heute eine Herausforderung.

Le pretre fait une pause et benit les fideles, lors de la procession de la Fete Dieux, ceremonie durant laquelle les habitants defilent en cortege dans les rues du village de Saas-Fee ce jeudi 22 mai 2008 dans le canton du Valais. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)

(Bild: Keystone/JEAN-CHRISTOPHE BOTT)

Pfingsten erinnert daran, wie der Heilige Geist den Aposteln Fremdsprachen einhauchte. Über Religion miteinander reden, einander vielleicht gar verstehen, bleibt aber bis heute eine Herausforderung.

Uns steht Pfingsten bevor. Wer noch nicht weiss, wie das lange Wochenende zu nutzen wäre, kann im Internet «Last Minute»-Buchungen vornehmen. Wie wärs mit einem Tango-Workshop oder einer Reise zum «Tatort Jungfrau», wo man einen Mörder jagen kann (ging 2013 erstmals mit grossem Erfolg über die Bühne).

Pfingsten eher angemessen wäre freilich etwas Spirituelles, zum Beispiel der Kurs eines «Ausbildungszentrums für Lebensfreude», der uns hilft, Heilkräfte aus der Wesensmitte unseres Herzens zu aktivieren.

Die Wenigsten wissen und interessiert, was Pfingsten ursprünglich bedeutete, wie dieser Feiertag in unseren Kalender gekommen ist und warum da noch ein Montag als gesetzlicher, das heisst bezahlter Feiertag angehängt ist. Es ist einfach so. Und nehmen lassen wir uns den nicht. Das bekamen 2005 die deutschen Wirtschaftsverbände und die französische Regierung zu spüren, als sie Pfingsten auf den Sonntag beschränken wollten.

Sprache meint Weitergabe aus der Innenwelt. Und die hat selbst in einer stark säkularisierten Welt ihre Bedeutung nicht verloren.

Hinter dem Feiertag steckt, wie bei manch anderen Feiertagen, ein jüdisches Fest, Schawuot, ein Erntedankfest. In der christlichen Ausformung ist daraus ein Gedenktag geworden, der daran erinnern soll, dass die Jünger Christi sieben Wochen nach Ostern während einer Zusammenkunft vom Heiligen Geist den Auftrag erhielten, ihren Glauben an andere weiterzugeben. Wie es in der Apostelgeschichte (2,1–4) heisst:

«Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen liess sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.»

Das «Pfingstwunder» meint die plötzlich eingetretene und wunderbare Fähigkeit, in anderen Sprachen zu sprechen und andere Sprachen zu verstehen, unabhängig von Nationalität und Ethnizität. Wäre das nicht eine Qualität, über die wir auch heute wenigstens in Annäherung verfügen sollten? Universelle und globale Kommunikation!

Wichtig ist jedoch, dass in einem leicht erweiterten Verständnis nicht nur «reden» im missionarischen Sinne einer einseitigen Vermittlung, sondern auch «verstehen», also Dialog, gemeint sein kann. Und Sprache ist wie meistens mehr als nur ein akustisches Phänomen, nämlich verständliche Weitergabe aus der Innenwelt. Und die hat selbst in einer stark säkularisierten Welt ihre Bedeutung nicht verloren.

Vielleicht beruhigt es, dass jeder zweite Muslim angibt, innert Jahresfrist keinen Gottesdienst besucht zu haben.

Wenige Tage vor Pfingsten, aber kaum auf diese abzielend, hat das Bundesamt für Statistik am 22. April aufgrund einer Umfrage bei 16’500 Personen (davon 19 Prozent ohne schweizerische Staatsbürgerschaft) Angaben zu den religiösen und spirituellen Praktiken der Bevölkerung veröffentlicht. Diese würde, wie behauptet wird, «erstmals» solche Einblicke geben. Wir erhalten Angaben zu den Grössenordnungen der verschiedenen Religionen, zum Kirchgang und zum Betbedürfnis. Alles mittels Selbstdeklaration der Befragten, die nicht unbedingt dem tatsächlichen Verhalten entsprechen muss, was nicht unproblematisch ist.

Laut dieser Studie glauben 46 Prozent der Befragten an einen einzigen Gott, ein Viertel weder an einen noch an mehrere Götter, dafür aber an eine höhere Macht. Dann gibt auch 17 Prozent Agnostiker, die zur Existenz eines höheren Wesens nicht Stellung beziehen, weil man sie weder bestreiten noch bekräftigen könne; und dann noch 12 Prozent Atheisten. Wirklich interessant wären solche Angaben aber erst, wenn man zugleich erfahren würde, was dies in welcher Weise für das konkrete Leben bedeutet, das heisst, ob die eine und andere Gläubigkeitskategorie handlungsanleitend ist.

Man darf sich fragen, was solche Umfragen sollen. Einerseits kann man sich selber einordnen und feststellen, wie gross die Gruppe ist, der man offenbar angehört. Die Wahrnehmung der realen Verhältnisse ist indessen vor allem darum wichtig, weil sie Korrekturen von falschen Vorstellungen ermöglicht. Dazu könnte einmal mehr die Vorstellung gehören, dass Muslime insgesamt wesentlich religiöser und fundamentalistischer eingestellt seien als Christen. Vielleicht beruhigt es, dass jedes zweite Mitglied der muslimischen Gemeinschaft angibt, im Jahr vor der Umfrage keinen Gottesdienst besucht zu haben?

In politischen Fragen und beim Sexualverhalten hat die Religionszugehöhrigkeit geringen Einfluss, grösser ist er bei der Kindererziehung.

Ein besonderer Wert dieser Umfrage besteht darin, dass sich ihre Fragestellung nicht auf die muslimische Gläubigkeit beschränkt, sondern – wenigstens statistisch – alle Religionen gleich behandelt. Gewisse Mengenangaben sind aber nur beschränkt aussagekräftig: Die wegen des anhaltenden Schwunds verbliebenen 38 Prozent Katholiken und 26 Prozent Protestanten zum Beispiel dürften wohl auf unterschiedliche Art Mitglieder ihrer Landeskirchen sein, das heisst als Individuen ein je anderes Gepäck im Religionsrucksack haben.

Die Prägewirkung von Kirchenzugehörigkeit ist, wie frühere Abklärungen gezeigt haben, gering. Nur 16 Prozent von zuvor schon Befragten geben an, sie würden anders denken und handeln, wenn sie nicht Mitglied einer Kirche wären. Bei der aktuellen Erhebung wäre aufschlussreich gewesen, auch etwas über allenfalls altersbedingte Unterschiede zu erfahren. In politischen Fragen, bei der Wahl des Lebenspartners und beim Sexualverhalten hat die Religionszugehörigkeit geringen Einfluss, wie eine frühere Befragung festgestellt hat, grösser ist er bei der Erziehung von Kindern.

Solche Umfragen können im besten Fall einfach festhalten, was ist. Wichtig wäre aber, zu erfahren, warum es so ist und was wir daraus für weitere Schlüsse ziehen, etwa aus der Feststellung, dass Frauen angeblich noch immer wesentlich mehr beten als Männer (35 versus 20 Prozent) und sogar zu 58 Prozent an Engel und übernatürliche Wesen glauben (versus 37 Prozent der Männer). Frühere Abklärungen halten aber mit der nötigen Deutlichkeit fest, dass nicht die «Natur» der Frauen, sondern deren gesellschaftliche Position sie unter Umständen religiöser macht.

Abwandernde Christen wenden sich einer Privatreligiösität à la carte zu.

Die erklärte Erstmaligkeit einer solchen Erhebung zeugt nicht untypisch von wenig Kenntnis bereits unternommener Abklärungen. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre sind in einem Nationalen Forschungsprogramm (unter der Leitung des Schreibenden) solche Erhebungen von Roland Campiche/Alfred Dubach/Jean-François Mayer durchgeführt worden.

Schon damals konnte man – wenig überraschend – den Rückgang der traditionellen Religiosität feststellen. Gleichzeitig wurde, was damals noch nicht allgemein bekannt war, festgestellt, dass die abwandernden Christen eine Privatreligiosität à la carte pflegen und/oder sich einer neuen Spiritualität zuwenden, die man auch als Neoreligiosität bezeichnet.

Die angesichts der Erosion der klassischen Kirchlichkeit getroffene Schlussfolgerung der fortlaufenden Säkularisierung oder Verweltlichung ist also zu relativieren. In der Regel kommt es zu Identitätserweiterungen und nicht zu Identitätsbrüchen.

Im Alltagsleben sind die Menschen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit kaum auseinanderzuhalten.

Die Moderne verdrängt nicht einfach Religion, manchmal ruft sie sogar danach. Höchst rationales Verhalten im Berufsleben und religiöse Beheimatung sind durchaus kombinierbar. So kann sich ein Banker in der Freizeit ohne Weiteres fernöstlicher Meditation hingeben. Er kann das auch nur für eine gewisse Zeit tun und sich dann wiederum einer anderen Orientierung zuwenden. Von «Inselhüpfen» wird da gesprochen.

Im Alltagsleben sind die Menschen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit kaum auseinanderzuhalten, und wenn doch, spielt es tendenziell immer weniger eine Rolle. Was die modernen Lebensverhältnisse charakterisiert: Sie sind segmentiert, sie ermöglichen ein individuelles Eingehen von Teilbindungen in einem Subsystem von begrenzter Reichweite und Verbindlichkeit. Zudem kann man gleichzeitig beim traditionellen Zelebrieren von Lebensstationen (Taufe, Hochzeit, Tod) weiterhin den alten Kirchenservice in Anspruch nehmen wollen, für Nichtkirchenmitglieder neuerdings unter Umständen gegen Gebühr.

Zum Schluss können wir uns fragen, was die vermehrten Klagen gegen kirchliches Glockengeläute (neben dem Klagen über Kuhgeläut an den Agglomerationen) bedeuten. In den vergangenen Tagen musste sich der Zürcher Kantonsrat mit einer ausserparlamentarischen Einzelinitiative beschäftigen, die ein Verbot oder wenigstens eine Reduktion des kirchlichen Glockengeläuts forderte.

Die Begründung: Es gebe schon genug Lärm, der nicht vermeidbar sei, insbesondere Strassen-, Bau- und Fluglärm. «Lärm» von Kirchenglocken dagegen sei vermeidbar und völlig unnötig. Wer unbedingt Kirchenglocken hören wolle, könne sich eine entsprechende App auf sein Handy laden. Der Vorstoss des wegen ähnlicher Vorstösse bestens bekannten Bürgers wurde diskussionslos und einstimmig versenkt.

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