Alleine ohnmächtig, gemeinsam mächtig

Die Währung der Politik ist die Macht, schreibt unser Kolumnist. Und die hat jeder einzelne Bürger. Und je mehr von ihnen gemeinsam handeln, desto mehr Macht können sie auch realisieren.

(Bild: Keystone)

Die Währung der Politik ist die Macht, schreibt unser Kolumnist. Und die hat jeder einzelne Bürger. Und je mehr von ihnen gemeinsam handeln, desto mehr Macht können sie auch realisieren.

Politik kann man als die Summe aller Anstrengungen und Kräfte verstehen, welche auf die Gestalt unserer Lebenswelt und die Form unserer Gesellschaften einwirken. Die Demokratie wäre das Gesamtkunstwerk – oder eben Mosaik – aller Regeln, Institutionen, Verfahren und Qualitäten, welche garantieren, dass zumindest alle Bürgerinnen und Bürger frei sein können.

Das heisst, in einer Demokratie verfügen alle Bürgerinnen und Bürger über das gleiche Recht, auf die Gestaltung der Gesellschaft einzuwirken. Die Verfassung einer Demokratie ermächtigt sie in gleichem Mass, frei und somit ein politischer Akteur zu sein.

Die Währung der Politik, die Form dieser Einflussnahmen und Wirkungen, ist die Macht. Mit ihrer demokratischen Verfassung haben die Bürgerinnen und Bürger jedem Menschen Macht verschafft, jedem Bürger und jeder Bürgerin ab dem 18. Altersjahr sogar noch etwas mehr. Dennoch ist Macht für viele ein negativer, ja schmutziger Begriff.

Macht ist für viele ein negativer, ja schmutziger Begriff.

Weshalb eigentlich? Sind sich viele ihrer Macht nicht bewusst? Oder wissen sie nicht, wie sie sie wahrnehmen können? So konnten sie sie noch nie erfahren und sich ihrer auch nicht wirklich bewusst werden?

Liegt vielen Menschen deshalb die Ohnmacht näher als die Macht, auch wenn sich dies in einer Demokratie seltsam schräg anhört? Oder erfahren so viele Menschen Macht als Objekt und nicht als Subjekt, wie es der demokratische Anspruch wäre? Das heisst, sie erfahren sich als jene, auf welche Macht ausgeübt wird, und nicht als solche, welche ihre Macht in der Gesellschaft zur Geltung bringen können. Verwechseln sie deswegen so oft die Macht mit der Gewalt?

Oder hat der schlechte Ton dieses Begriffs mit seiner negativen Definition zu tun, die heute bei den meisten von uns leider vorherrscht? So etwa in Anlehnung an das nun schon über 100-jährige, folglich lebensgeschichtlich von der kaiserlich-königlichen Obrigkeit geprägte negative Begriffsverständnis des deutschen Soziologen Max Weber (1864–1920), wonach Macht die Kraft ist, jemanden zu einem Handeln veranlassen zu können, das nicht seinem eigentlichen Willen oder gar seinem Interesse entspricht.

Die Parallele zum Fussballspiel

Die Demokratie wird heute von den meisten sehr geschätzt; die direkte Demokratie, welche die politische Macht im Staat weit besser verteilt als die bloss indirekte und den Bürgerinnen und Bürgern weit mehr von ihr überlässt, ganz besonders. Dennoch machen sich die meisten dieser Liebhaber der Demokratie einen negativen Machtbegriff zu eigen. Weshalb dieser Widerspruch? Gleicht diese widersprüchliche Haltung nicht der unmöglichen Vorstellung eines Fussballspielers, der zwar gerne Fussball spielt und gerne Tore schiesst, den Ball, gleichsam die Währung des Spiels, aber hasst?

Dabei wissen wir doch, dass die grössten Fussballkönner wie Lionel Messi oder früher Karli Odermatt den Ball nicht nur lieben, sondern mit den Füssen gleichsam zu streicheln wissen, bevor sie ihn im tiefen Eck zu versenken pflegen. Jedenfalls ist im Fussball jedem klar, was in der Politik den meisten fremd zu sein scheint: Wer schöne Tore schiessen will, muss den Ball lieben; es kann kein guter Demokrat sein, der ein negatives, ja gebrochenes Verhältnis zur Macht besitzt.

Es kann kein guter Demokrat sein, der ein negatives, ja gebrochenes Verhältnis zur Macht besitzt.

Da ist es wichtig zu wissen, dass es auch positive Machtverständnisse gibt, die mit den demokratischen Ansprüchen vereinbar sind und deshalb als Bausteine der Demokratie ins öffentliche Bewusstsein gehoben werden müssen. Denn sie verleiten uns nicht zur Passivität, sondern ermutigen uns zum handeln.

Eine der berühmtesten Steinhauerinnen eines positiven Machtverständnisses, das ohne gewollte oder ungewollte negative Nebenwirkungen für die Demokratie auskommt, war die politische Philosophin Hannah Arendt (1906–1975). Für sie bedeutet Macht die Fähigkeit von Menschen, sich zusammenzufinden und gemeinsam auf die Gesellschaft einzuwirken, zu handeln.

Die Macht steckt in jedem Menschen

Je mehr Menschen gemeinsam für ähnliche Ziele zu handeln verstehen, desto mehr Macht können sie realisieren, das heisst, desto besser gelingt es ihnen, die Lebenswelt und die Beziehungen der Menschen zueinander in ihrem Sinn zu verändern.

Dabei betont Hannah Arendt, dass in jedem Menschen Macht als Potenzial schlummert, er diese aber nur zusammen mit anderen realisieren kann. Mit anderen Worten: Zwar kann man mit viel Glück und einigem Talent möglicherweise alleine reich werden, doch politisch kann man alleine höchstens verzweifeln. Politisch kann uns nur dann etwas gelingen, wenn wir verstehen, zueinander zusammenzufinden, uns zu «organisieren», und lernen, gemeinsam zu handeln.

Allein lassen wir die Macht verkümmern.

Allein lassen wir die Macht, die als Möglichkeit in uns schlummert, verkümmern; alleine bleibt uns bloss die Ohnmacht und dann die Verzweiflung. Mit vielen anderen könnten wir aber Berge versetzen; wir müssen die andern aber erst finden, uns untereinander verständigen, einander überzeugen, wie wann was weshalb gemeinsam zu tun ist.

Wer also anderen Menschen aus dem Weg geht, ihnen ausweicht, statt auf sie zu geht, der muss sich nicht wundern, wenn er sich ohnmächtig fühlt. Er wird wohl nicht einmal seine institutionalisierte Bürgermacht, das Wählen und Abstimmen, wahrnehmen, die er auch alleine realisieren könnte. Denn mit den vielen Anderen ist ihm eigentlich längst die ganze Gesellschaft fremd geworden, die mitzugestalten die Freiheit ihn einlädt.

So verkommt auch die Freiheit zum vermeintlichen Anspruch, von allen anderen einfach in Ruhe gelassen zu werden. So wie der Frieden mit der Ruhe auf dem Friedhof verwechselt wird. Der Friedhof, auf dem es kein Leben und kein Handeln mehr gibt und sich eine andere Macht der anderen Art durchgesetzt hat, der Tod.

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