Alles beim Alten

Das Gerangel rund um die Bundesratswahl ist ein Abbild des verknöcherten Politsystems der Schweiz. Eine Analyse zu den Wahlen vom kommenden Mittwoch, die auch nach dem wilden Hin und Her mit den SVP-Kandidaten mit grosser Wahrscheinlichkeit mit dem Status quo enden werden.

Vor der Wahl scheint klar, dass alles beim Alten bleibt.

Das Gerangel rund um die Bundesratswahl ist ein Abbild des verknöcherten Politsystems der Schweiz. Eine Analyse zu den Wahlen vom kommenden Mittwoch, die auch nach dem wilden Hin und Her mit den SVP-Kandidaten mit grosser Wahrscheinlichkeit mit dem Status quo enden werden.

Am ehrlichsten sagte es Gabi Huber, die Frak­tionschefin der FDP. Als sie am vergangenen Dienstagabend vor den Medien in ihrer unverwechselbar spröden Art ­ihren altbekannten Konkordanz-Sermon heruntergebetet hatte, streckte ihr eine Journalistin von Radio DRS das Mikrofon entgegen. Was macht die FDP bei einem Angriff der SVP? Was ist von den Forderungen der SP zu halten? Warum unterstützt die FDP Eveline Widmer-Schlumpf nicht? Und soll die SVP zwei Sitze erhalten?

Gabi Huber schwenkte ihren Kopf einmal von ganz rechts nach ganz links und wieder zurück – auch das ein Merkmal der Urnerin – und sagte dann: «Unser erstes Ziel ist die Wiederwahl der beiden FDP-Bundesräte. Wir bauen unsere gesamte Strategie um dieses Ziel herum.»

Will man die aufgeregten Tage vor der Wiederwahl des Bundesrats verstehen, hält man sich am besten an diesen Ausspruch von Gabi Huber. Es war ein Satz Wahrheit in einer Woche voller Lügen. Ein Satz auch, mit dem man begründen kann, warum jetzt alles so kommt, wie es kommen wird.

Der Status quo

Spätestens nach den Fraktionssitzungen vom Dienstag ist klar, dass der mit Abstand wahrscheinlichste Ausgang der Bundesratswahlen der Status quo sein wird. Eveline Widmer-Schlumpf von der BDP wird wiedergewählt, Johann Schneider-Ammann von der FDP wird wiedergewählt, und die SVP bleibt aussen vor. Der Grund dafür ist ein psychologischer. Ein zutiefst menschlicher auch. Und Gabi Huber hat ihn ausgesprochen. Das Gerangel rund um die Bundesratswahlen zeigt, wie das Politsystem der Schweiz funktioniert, und vor allem zeigt es, warum es so schwierig ist, die Dinge in der Schweiz zu verändern. Jeder Politiker, den man in diesen Tagen im Bundeshaus von der Seite anspricht, wird in den ersten zwei Minuten des Gesprächs die Worte «Konkordanz» und «Stabilität» und «Konsens» in den Mund nehmen. Er wird die Worte sagen und etwas anderes dabei denken. Denn alle reden von der Konkordanz. Alle reden vom Konsens. Aber alle meinen etwas ­anderes. Wo sie sich treffen, ist in den Motiven: Es geht niemandem um das grosse Ganze. Sondern nur um die eigene Machtposition. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man sich das Verhalten der Parteien in den letzten Tagen näher vor Augen führt.

Berechnende SP

Obwohl weiterhin die SVP die stärkste Partei im Bundeshaus ist, obwohl auch die SP im Oktober Wähleranteile verloren hat (minus 0,8 Prozent), stellen sich die Sozialdemokraten vor den Bundesratswahlen weitaus am geschicktesten an. Sie dominieren den Diskurs. Und weil sie das tun, dominieren sie auch die Wahlen.

Noch vor wenigen Wochen hat Parteipräsident Christian Levrat darauf bestanden, dass CVP und BDP fusionieren müssen. Nur so sei ein Sitz für die Kleinpartei BDP zu rechtfertigen: «Deshalb pochen wir auf eine Lösung der CVP und BDP. So könnte Widmer-Schlumpf im Rahmen der Konkordanz wiedergewählt werden», sagte Levrat in der Samstagsrundschau von Radio DRS vom 26. November. Eine Woche später galt sein Wort nicht mehr. Nach der SP-Delegiertenversammlung liess er via «Sonntagszeitung» die neue Losung verbreiten: Widmer-Schlumpf, ja. Und ein zweiter Sitz für die SVP – aber nur auf Kosten der FDP. Es ist Levrats neue Zauberformel: Zwei Sitze der SVP, einen der FDP, zwei der Mitte und – vor allem – zwei der SP.

Wahrscheinlich wusste Levrat – und mit ihm die Parteispitze der SP – damals schon, dass die Fusionsgespräche zwischen CVP und BDP nicht den aus Sicht der Sozialdemokraten gewünschten Verlauf genommen hatten. Am Montag verkündeten die Spitzen der beiden selbst ernannten Mitte-Parteien im Bundeshaus das magere Resultat ihrer Bemühungen: regelmässige Sitzungen vor der Session und eine «Absichtserklärung», im nächsten halben Jahr eine vertiefte Zusammenarbeit noch genauer zu prüfen. Auf dieser Grundlage ist eine Wiederwahl von Widmer-Schlumpf nach den ursprünglichen Massstäben der SP nicht zu rechtfertigen. Auch wenn Fraktionschefin Ursula Wyss am Dienstagabend nach der Fraktionssitzung die «Annäherung» von CVP und BDP als Grundlage für eine Wiederwahl Widmer-Schlumpfs im Rahmen der Konkordanz anführte.

Moralisch flexibel

Ein zweites Beispiel für die Flexibilität der SP ist die am vergangenen Sonntag hochgekochte Idee einer veränderten Wahlreihenfolge. GLP-Präsident Martin Bäumle war prominenter Fürsprecher einer Wahl, die zwischen «sicheren» und «unsicheren» Bundesräten unterscheiden würde und in der Eveline Widmer-Schlumpf im letzten Wahlgang gegen Johann Schneider-Ammann angetreten wäre. De facto hätten damit die SVP und die SP als grösste Fraktionen gemeinsam und alleine über die Zusammensetzung des Bundesrats entscheiden können. Noch am Montag war das für viele Sozialdemokraten eine durchaus interessante Möglichkeit, eine bequeme vor allem: Mit einer veränderten Wahlreihenfolge hätte man sowohl die SVP auf Abstand halten als auch die beiden eigenen Sitze sichern können. Nach einem kurzen Nachdenken über die staatspolitischen Auswirkungen einer solchen Änderung, die faktisch eine Diktatur der Mehrheit bedeutet hätte, nahm die SP-Spitze wieder Abstand von der Idee.

Man hatte in der Zwischenzeit auch etwas Besseres gefunden. Nachdem die SVP mit Bruno Zuppiger jenen «vernünftigen» Kandidaten präsentierte, der von den anderen Parteien immer gefordert worden war und man noch nichts von Zuppigers Erb-Geschichte wusste, akzeptierte die SP den Anspruch der SVP auf zwei Sitze. Allerdings nur unter Vorbehalt: «Die SVP muss ihren Anspruch deutlich machen und uns um Unterstützung bitten», sagte Fraktionschefin Wyss am Dienstag. Nur wenn die SVP bereit ist, nach dem missglückten Angriff auf Eveline Widmer-Schlumpf im zweiten Wahlgang der Bundesratswahlen auch die freisinnigen Freunde anzugreifen, wird die SP die SVP unterstützen. Mit dieser einfachen Formel hat die SP jeglichen Druck von sich weg – und hin zu den beiden rechtsbürgerlichen Parteien geschoben.

Diese Strategie hat drei Vorteile für die SP: Erstens – und das ist für die Partei am wichtigsten – behält sie ihre beiden Bundesratssitze. Zweitens wird eine rechtsbürger­liche Mehrheit von SVP und FDP im Bundesrat verhindert. Drittens spielen im Modell Levrat auch und bis auf Weiteres die Grünen keine Rolle.

Die verwirrte SVP

Die direkten Auswirkungen der konfusen, aber machtvollen SP-Bundesratsstrategie lassen sich in diesen Tagen im rechten Vorzimmer des Nationalrats erleben. Die Parlamentarier der SVP wirken anders, als man sie in Erinnerung hat. Zerknirschter, düsterer, etwas verzweifelt gar. Es war in den vergangenen zehn Jahren die grosse Stärke der Partei, jeden und jede auf Linie zu trimmen; Abweichler gar nicht erst aufkommen zu lassen. Heute sind sich nicht einmal mehr Fraktionschef und Parteipräsident einig. Am Dienstagmorgen sprach Caspar Baader in ein Mikrofon: «Ja, ich schliesse einen Angriff auf die FDP aus.» Am Mittwochmorgen sprach Toni Brunner in ein Mikrofon: «Alles ist möglich.»

Schon lange hat man diese Partei nicht mehr derart verwirrt erlebt. Noch selten so unter Druck. Seit die «Weltwoche» die Erbschaftsverstrickungen von Bruno Zuppiger aufgedeckt hat (online nicht verfügbar), befindet sich die SVP in einem Zustand der öffentlichen Auflösung. Kommt hinzu: Auch ohne Zuppiger und mit ihrem neuen Zauberkandidaten Hansjörg Walter hat die SVP nur eine Chance, wenn sie ihren engsten und einzigen Freund, den Freisinn, offiziell angreift. Und genau das hat Walter bereits explizit ausgeschlossen.

Brunner und Baader sagen zwar nicht das Gleiche, aber meinen wohl dasselbe. Wenn am 14. Dezember im zweiten Wahlgang Eveline Widmer-Schlumpf die Attacke von Walter und Jean-François Rime übersteht, wird die SVP-Spitze mit ihrem Lieblingsargument – dem «willentlichen Bruch der Konkordanz» – jegliches Abweichen von früher geäusserten Haltungen rechtfertigen. Sie wird eine Sitzungspause verlangen, sie wird es vielleicht doch noch mit einem Angriff auf die FDP oder den freien Sitz der SP versuchen – aber dann wird es zu spät sein. «Wir sind ohnmächtig», sagte diese Woche ein SVP-Politiker in der Wandelhalle, «wir können nur verlieren.»

Zu stark lässt sich die Volkspartei noch immer von Rachegefühlen leiten. Zu früh hat sie sich auf den Sitz von Eveline Widmer-Schlumpf kapriziert. Nicht aus Gründen der Konkordanz, wie es immer heisst. Sondern aus einem tiefen Gefühl des Verlusts. Widmer-Schlumpf hat das Monument Blocher gestürzt – und das haben viele SVPler bis heute nicht verkraftet.

Die stille FDP

Nutzniesserin der verletzten SVP-Seele ist die FDP. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die SVP bis zum nächsten Dienstag dazu durchringen kann, bei der SP demütig um Unterstützung zu bitten. Und das hilft dem Freisinn, das «wichtigste Ziel» überhaupt zu erreichen. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die FDP davon ausgeht, mit ihren gerade noch 15,1 Prozent Wähleranteil Anrecht auf zwei Bundesratssitze zu haben.

Und es ist genauso erstaunlich, mit welcher Geradlinigkeit die Partei ihr Ziel verfolgt. «Wir stehen nicht in der Verantwortung, Eveline Widmer-Schlumpf wiederzuwählen», sagt Fraktionschefin Huber. Am 14. Dezember wird die FDP-Fraktion im zweiten Wahlgang mehr oder weniger geschlossen einen der beiden SVP-Kandidaten wählen. Und weil es nicht reichen wird, wird auch Huber nach dem zweiten Wahl­­gang ans Rednerpult stehen, den gleichen «Bruch der Konkordanz» erklären und dann die Versammlung dazu aufrufen, ihre beiden Bundesräte zu wählen. Sie wird auf die Unterstützung von SP, BDP, CVP und Grünen angewiesen sein, und sie wird sie gerne annehmen. Denn: «Unser erstes Ziel ist die Wiederwahl der beiden FDP-Bundesräte. Wir bauen die gesamte Strategie um dieses Ziel herum.»

Die vage Mitte

Bleiben die Parteien in der Mitte, bleiben die ­Grünen. Während sich letztere seit dem schlechten Abschneiden bei den Gesamterneuerungswahlen kleinlaut aus der Machtdebatte verabschiedet haben, berauscht sich die «Neue Mitte» an den eigenen, ­ungeahnten Möglichkeiten. Die BDP hat ihren Zweck bereits heute erfüllt: Sie wird sich vier weitere Jahre lang eine «Bundesratspartei» nennen dürfen. Und sogar noch länger, wenn sie es geschickt macht. Entsteht in den nächsten vier Jahren eine wie auch immer geartete «Zentrumspartei» aus BDP und CVP dürfte dieses Konstrukt in Zukunft mit zwei Sitzen in der Regierung rechnen.

Etwas aus der Ferne, aber nicht minder machtbewusst werkelt die GLP vor sich hin. Die Grünliberalen – und vor allem ihr Chef Martin Bäumle – gefallen sich in der Rolle der «unheimlichen Macht», der Strippenzieher im Hintergrund. Je nach Situation orientieren sich die Grünliberalen nach rechts oder nach links; ihr inexistentes Parteiprogramm erlaubt im Moment noch alles. Freunde machen sich die Grünliberalen damit keine. Über kaum einen Parlamentarier wird im Moment so häufig und so offen gelästert wie über Martin Bäumle.

Die meisten Politiker in der Wandelhalle werfen dem Chef der Grünliberalen vor, zu machtbessessen zu sein. Es sind die gleichen Politiker, die mit ihrem Verhalten vor der Wahl am 14. Dezember beweisen, um was es ihnen wirklich geht. Um einen Sitz im Bundesratszimmer, um Einfluss, um Status. Dabei ist den Parteien jenes Szenario am nächsten, das ihnen selbst am wenigstens schadet. Und das ist in der aktuellen Situation der Status quo, von dem ausser der SVP alle profitieren.

Es ist jene Fixierung auf den eigenen Status, jene Konzentration auf die eigene Befindlichkeit im Angesicht einer weltweiten Krise, die den Historiker Thomas Maissen im Interview mit der TagesWoche am aktuellen System stört: «Ich bin auch nicht grundsätzlich gegen ein Konkordanz­system, aber gegen diese Verlogenheit. Ständig wird von Konkordanz gesprochen, dabei gibt es schon längst keinen Grundkonsens mehr, der das Wesen einer echten, inhaltlichen Konkordanz eigentlich ausmachen würde.»

Es ist diese Verlogenheit, die für den Historiker Maissen Grund genug böte, ernsthaft über eine Volkswahl des Bundesrats nachzudenken. Die mög­lichen Bedenken gegenüber einer solchen Wahl – die anständige Vertretung aller Landesteile oder der zu befürchtende ständige Wahlkampf beispielsweise – entkräften die 246 gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Bundeshaus momentan mit grosser Inbrunst.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

In der Print-Ausgabe wird Bruno Zuppiger noch als Kandidat der SVP bezeichnet – das ist unserem Redaktionsschluss vom Mittwochabend geschuldet. Wir bitten um Verständnis.

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