Aydin Sen arbeitet 14 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche. Die Geschichte des Besitzers des Kiosks beim St. Johanns-Tor ist nur eine von vielen Geschichten vom Wandel des Quartiers. Und eine vernachlässigte.
Aydin Sen hat Schwielen an den Ellenbogen, vom Aufstützen in seinem kleinen Kiosk. Er hat einen bösen Rücken, vom vielen Stehen. Aber er mag nicht klagen. Alles gut, alles gut, sagt er meistens und lächelt dazu.
Besonders gut geht es ihm, wenn im späten Sommer die einzigen zwei freien Wochen des Jahres immer näher scheinen. Zwei Wochen Antalya mit der Familie, seiner Frau und den beiden Kindern.
Gute und andere Tage
Der Rest des Jahres: Um 5 Uhr in der Früh aufstehen. Den Kiosk bereit machen. Den Dreck der Nacht zusammenkehren (anscheinend schifft es sich noch gut im kleinen Warteräumchen neben seinem Kiosk), die Rolladen hoch, die Ellenbogen aufgestützt. Pause macht er keine. An guten Tagen bringt ein Taxifahrer einen Döner vorbei, an schlechten Tagen nicht. Um 19 Uhr das gleiche Prozedere umgekehrt. Die Zeitungen versorgen, die Ständer abräumen, den Rollladen runter und dann nur noch heim. Schlafen.
Sein Kiosk ist an sieben Tagen die Woche geöffnet, Angestellte hat Sen keine. Seine Frau arbeitet auch 90 Prozent, woanders, anders ginge es nicht, sagt Sen.
Alles gratis
Vor zwanzig Jahren kam er aus Istanbul in die Schweiz. Eine schöne Stadt sei das, aber nicht mehr auszuhalten. Der Verkehr, der Lärm, die Abgase. «Abends macht der Kopf weh.» Nach seiner Ankunft aus der Türkei arbeitete er bei McDonald’s, in der Nachtschicht beim Coop, dann, vor sechs Jahren, der Kiosk.
Und es lief schon besser für den Kiosk am St. Johanns-Tor. An einem guten Sonntag verkaufte Sen früher 200 Zeitungen. Heute werden noch 50 Stück geliefert, und die meisten bleiben liegen. Auf etwa 60 Prozent schätzt der Kioskinhaber den Rückgang bei den Printtiteln. «Die Leute lesen heute alles gratis. Auf ihrem iPhone, auf ihrem iPad.» Er überlegt sich, auf Zeitungen ganz zu verzichten. Der Kiosk weiter vorne, bei der Johanniterbrücke, verkaufe schon länger keine Zeitungen mehr und scheine nicht schlecht zu laufen.
Nur noch in den Randzeiten
Aydin Sen ist nur einer von vielen kleinen Gewerbetreibenden, die versuchen, im St. Johann zu überleben und es je länger je schwerer haben. Die indische Familie mit ihrem Laden an der Ecke Jungstrasse, Thiyahu Thamboo mit seiner Familie im Denner-Satelliten vorne an der Elsässerstrasse, die Kurden hinten an der Mülhauserstrasse – sie alle arbeiten Stunden, die den meisten Schweizern nicht zuzumuten wären. Die Randzeiten funktionieren noch einigermassen für diese kleinen Läden, wenn die Parkbesucher Bier und Zigaretten und Chips brauchen.
Für den normalen Einkauf gehen die Bewohner des St. Johanns in die grossen Zwei. Und beide, Migros und Coop, haben das Potenzial des aufgewerteten Quartiers erkannt. Coop hat kürzlich eine grosse Filiale an der Elsässerstrasse aufgemacht, die Migros baut noch an ihrem neuen Laden. Das Geschäft wird zwei Eingänge haben: einen zur Mülhauserstrasse, einen zur Elsässerstrasse. Dort, wo früher die kurdische Familie Saridas ihren Laden hatte.
Aber sie wollen nicht klagen. Sie reiben sich die Ellenbogen, halten sich den Rücken. Und machen weiter, Tag für Tag.