Der Champions-League-Final am 28. Mai in Mailand (20.45 Uhr) ist ein Derby der zwei grossen Mannschaften aus Madrid. Real und Atlético sind sich ähnlicher, als man auf den ersten Blick erwartet. Die identitätsstiftenden Unterschiede werden geschickt inszeniert.
Die Bar von Toñín el Torero liegt im Madrider Arbeiterviertel Entrevías. Das Interieur ist simpel, die Speisekarte deftig und der Besitzer hat es als Stierkämpfer verkleidet zur Fanberühmtheit gebracht. Volkstümlicher geht es nicht in Spanien. Mehr kann sich einer seinem Verein nicht ausliefern. Toñín ist Anhänger von Real Madrid.
Wer nur die Klischees von den beiden Madrider Champions-League-Finalisten im Kopf hat, kann beim Verzehr des «cocido madrileño» – Kichererbseneintopf – und Toñíns Erzählungen («Meine beiden Söhne wurden in grossen Nächten gezeugt: der ältere in der des Champions-League-Siegs 1998 in Amsterdam, der jüngere 2002 beim Sieg in Glasgow») schon etwas ins Grübeln kommen: Ist das nicht ein Szenario, wie man es von Atlético erwarten würde?
«Wir sind die Mannschaft des Volkes», sagt Trainer Diego Simeone gern und bringt damit das Lebensgefühl von Atlético auf den Punkt. Jahrzehntelang hinkte der kleinere der beiden grossen Vereine Madrids – aber der drittgrösste Spaniens – sportlich so weit hinterher, dass er sich auf eine Identität des ärmeren, echteren, unverdorbeneren Klubs zurückzog. Vom Leben geschlagen zu werden, so wie vor zwei Jahren beim unglücklich verlorenen Finale gegen Real in Lissabon, trotzdem immer wieder aufzustehen, und wie jetzt erneut gegen alle ökonomische Wahrscheinlichkeit das Endspiel zu erreichen – das bleibt auch jetzt sein Narrativ.
Sogar Real-Fans gestehen ein, das Atlético mal einen Sieg verdient hätte
Bei Real sind sie ein bisschen neidisch darauf, wie gut das verfängt. «Auch bei uns gibt es Hingabe, Demut und Arbeit – im Fussball geht es nicht ohne», maulte Verteidiger Sergio Ramos vor dem Finale 2014, das er mit seinem Kopfballtreffer in der Nachspielzeit in die Verlängerung rettete. Atlético wäre auch wegen des Pechs damals in Lissabon fällig für seinen ersten Triumph. Ja, es hätte diesen aufgrund seines weit schwereren Wegs ins Endspiel (FC Barcelona, Bayern München) auch mehr verdient. Das sind sogar Hardcore-Real-Fans wie Toñín zuzugestehen bereit. Mit der Legende vom ewig übervorteilten Underdog, der sogar seinen unattraktiven Fussball als Ausdruck des Guten und Edlen zu legitimieren versteht (Simeone: «die Werte des Lebens»), sieht es da bisweilen schon anders aus.
In der Hauptstadt wird beim Fussball keine Stammesfehde ausgetragen. Die Unterschiede liegen vor allem in der Inszenierung.
War es nicht Atlético, lässt sich tatsächlich fragen, das nach dem spanischen Bürgerkrieg vorübergehend als «Atlético Aviación» mit der franquistischen Luftwaffe fusionierte, bevor das Regime auch Real für sich entdeckte? War es nicht Atléticos Präsident Jesús Gil y Gil, der als populistischer Bürgermeister von Marbella ein Korruptionsparadies schuf, aber im eigenen Klub die Jugendabteilung schloss? Waren es nicht rechtsradikale Atlético-Fans, die vor anderthalb Jahren einen Anhänger von Deportivo La Coruña zu Tode prügelten? Andererseits lässt sich zumindest eines kaum bestreiten: Dass sich das Establishment bei Real wohler fühlt, sieht man bei jedem Heimspiel an der Prominenz auf der Ehrentribüne.
Typische Real-Gegenden oder Atlético-Gegenden wird in Madrid jedoch nicht mal finden, wer wochenlang danach sucht. Anhänger beider Klubs leben im selben Haus, oft sogar in derselben Familie. Madrid ist nicht Glasgow, nicht das Ruhrgebiet, nicht Sevilla, der Ort mit dem leidenschaftlichsten Derby Spaniens. In der Hauptstadt wird beim Fussball keine Stammesfehde ausgetragen. Die Unterschiede liegen vor allem in der Inszenierung.
Die einen zelebrieren das Gewinnen, die andern das Verlieren
Wunderbar wurde das anschaulich, als beide Klubs zu Beginn dieses Jahrhunderts ihren 100. Geburtstag feierten und dafür neue Hymnen in Auftrag gaben. Der eine Klub zelebriert Universalität, der andere Bodenständigkeit, der eine das Gewinnen, der andere das Verlieren. Für Real schmetterte 2002 Opernstar Placido Domingo mit einem Chor von 82 Leuten so kitschige Zeilen wie: «Dein Spiel ist ein Gedicht, lasse es die Welt wissen.» Für Atlético konterte ein Jahr später Schrammelbarde Joaquín Sabina nicht weniger pathosgeladen: «Um (diese Vereinsliebe) zu verstehen, muss man im Calderón geweint haben.»
Im Vicente-Calderón-Stadion allerdings wird bald nicht mehr geweint werden, denn schon im nächsten Sommer sollen die Abrissbagger kommen. Atlético visiert für 2017 den Umzug in ein neues Stadion im Osten Madrids an. «La Peineta», der Haarkamm, wird es wegen seiner markantesten Tribüne genannt. Ursprünglich war es für Olympische Spiele ausgewiesen – die Madrid nie erhielt.
Gegen 44 Millionen Euro wurde das Terrain in Privatland umdeklariert und an Atlético verkauft. Ein ordentlicher Deal, wie ihn auch Reals mächtiger Präsident, der Bauunternehmer Florentino Pérez, kaum besser hinbekommen hätte. «Die beste Arena Europas», verspricht Atlético-Präsident Enrique Cerezo, rund 7000 VIP-Plätze soll sie haben. Nicht auszuschliessen, dass sich dann die Gesellschaftsgrössen auch verstärkt bei Atlético blicken lassen.
Wo die Stadien – hier das abgerockte «Calderón», dort das elegante «Santiago Bernabéu» im Madrider Business-Bezirk – bislang die unterschiedlichen Identitäten versinnbildlichten, wird zumindest diese Erzählung künftig nicht einfacher.
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Warum und wie Atlético endlich zum ersten Champions-League-Titel kommen will, erklärt der «Kicker» in zwölf Bildtafeln.