Asylbetreuer leben gefährlich

Bei einer Messerstecherei im Basler Asylzentrum gerät ein Betreuer zwischen die Fronten. Vergeblich hatten Angestellte vor den Gefahren gewarnt.

Eingang des Basler Asylzentrums Brüglingen (Bild: Danish Siddiqui)

Bei einer Messerstecherei im Basler Asylzentrum gerät ein Betreuer zwischen die Fronten. Vergeblich hatten Angestellte vor den Gefahren gewarnt.

Es ist der letzte Sonntag vor Weihnachten. Im Asylzentrum Brüglingen steht das Morgenessen auf dem Programm. Da zieht ein Asylbewerber plötzlich ein Messer und geht auf einen anderen los. Dieser versteckt sich hinter dem einzigen anwesenden Betreuer. Nur dank körperlichem Geschick des Betreuers und wohl auch dank Glück konnte dieser dem Angreifer in einem Handgemenge das Messer entwenden, sagen Augenzeugen.

Genau vor einer solchen Situation, wie sie sich am 18. Dezember 2011 ergab, hatten sich Angestellte des Basler Asylzentrums, das nahe der «Grün 80» auf Münchensteiner Boden liegt, immer gefürchtet. Ver­geblich hatten sie sich an ihre Vorgesetzten gewandt und diese gewarnt. Gewarnt davor, dass es unverantwortlich sei, wenn sich nicht nur nachts, sondern am Wochenende auch tagsüber nur ein einziger Betreuer um die bis zu 90 Asylbewerber kümmern müsse, alles Männer.

Polizei muss immer wieder ausrücken

Es war nicht die ein­zige Messer­stecherei im Asylzentrum Brüglingen. Ein paar Wochen vor diesem Vorfall musste die Polizei bereits einmal ausrücken. Ein 22-jähriger Nordafrikaner hatte auf einen 24-Jährigen aus Libyen eingestochen. Dieser musste ins Spital eingeliefert werden. Und im September dieses Jahres stach schon wieder einer mit dem Messer zu. Polizei und Sanität wurden vor Ort gerufen. Insgesamt registrierte die Baselbieter Polizei im Asylzentrum Brüglingen – nebst den routinemässigen Kontrollfahrten – seit Anfang Jahr zehn Einsätze. Es geht fast immer um «zwischenmenschliche Probleme», meist muss die Polizei einschreiten, weil ein Streit eskaliert.

Beat Meiner, Geschäftsführer der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, hat in den 1990er-Jahren selbst einmal ein solches Durchgangszentrum für Asylbeweber geleitet. Dorthin kommen Asylbewerber, wenn sie vom Empfangszentrum auf die Kantone verteilt werden. Oft ist schon die Zusammensetzung der Männergruppen explosiv: von Kriegsflüchtlingen, die verzweifelt auf einen positiven Bescheid warten, bis zu all den Hoffnungslosen, die gemäss Dubliner Abkommen zurückgeschoben werden in dasjenige europäische Land, in welches sie zuerst eingereist sind.

«Grundlegend falsches Konzept»

Beat Meiner ist nicht überrascht, dass es in dieser Unterkunft immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. «Ausschliesslich junge Männer – und dann erst noch in einer unterirdischen Anlage – zusammenzupferchen ist schon ein grundlegend falsches Konzept», sagt er. Menschen seien keine Maulwürfe, die für ein Leben untertags geschaffen seien. Und wer vor Krieg oder Folter geflohen sei, dem drohe, dass er in ­einer solchen Anlage erneut trauma­tisiert werde.

Kein Problem mit diesem Konzept hat hingegen die Betreuungsfirma ORS Service AG. Sie führt im Auftrag des Kantons Basel-Stadt das Zentrum Brüglingen. Die Firma sorgte verschiedentlich für Schlagzeilen, letztmals vergangene Woche. Sie führt im Auftrag des Bundes unter anderem ein Zentrum im luzernischen Eigenthal. Dort habe die ORS die Asylsuchenden «nicht angemessen» betreut, informierte das Bundesamt für Migration (BfM).

Unzureichende Betreuung

Kritik übte das Bundesamt an der Ernährung von Kleinkindern und der Betreuung von Kindern generell. Nicht geklappt habe auch die «Grundversorgung der Asylbewerber mit Kleidern». Selbst erwachsene Asyl­suchende seien von den ORS-Mit­arbeitern unzureichend betreut worden. Das BfM sützte sich auf einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Diese hatte im Auftrag der ORS das Zentrum untersucht, nachdem Vertreterinnen von Amnesty ­International kritsiert hatten, dass das Zentrum einem Straflager gleiche. Der grüne Luzerner Nationalrat Louis Schelbert intervenierte bei Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Kinder und Säuglinge hätten dort kaum warme Kleider, sagte er.

Inzwischen gesteht das Bundesamt ein, dass seine Kontrolle versagt habe. «Wir waren zu wenig vor Ort», sagt Sprecher Michael Glauser. Vertreter des Bundesamts würden künftig ­wöchentlich die Asylunterkunft Eigenthal besuchen. Die ORS beurlaubte den Leiter des Zentrums und versprach Besserung: Das Angebot an kindergerechter Verpflegung sei erweitert, die Tagesstrukturen für alle Bewohner abwechslungsreicher gestaltet worden. Man ziehe Lehren aus dem Einzelfall.
Tatsächlich mag Eigenthal ein krasses Beispiel sein. Doch bei Menschenrechtsaktivistinnen wie der Baslerin Anni Lanz, Ehrendoktorin der Universität Basel, ist es ein offenes Geheimnis, dass private Firmen Asyl-bewerber meistens unterbetreuen. «Damit sparen sich die Firmen Betreuungskosten», kritisiert sie.

Hilfswerke kommen nicht mehr zum Zug

Doch die privaten Betreuungs­firmen sind auf dem Vormarsch. Die ORS macht inzwischen einen Umsatz von jährlich 55 Millionen Franken. Ob bei der Neuausschreibung der Asyl­zentren des Kantons Freiburg oder beim neuen Bundeszentrum in Nottwil: Hilfswerke wie die Caritas oder die Heilsarmee kommen regelmässig nicht mehr zum Zug. Sie sind der öffentlichen Hand zu teuer. Zwar müssen sie – im Gegensatz zu privaten Betreuungsfirmen – keinen Gewinn erwirtschaften. Doch sie verlangen Qualifikationen und bezahlen ihren Betreuern entsprechende Löhne.

Und hier liegt wohl auch das grösste Sparpotenzial für private Anbieter. Wer die Asylbewerber so betreuen lässt, wie sich ein Badmeister um Badegäste kümmert, spart am meisten. Dazu braucht es auch keine ausge­bildeten Sozialarbeiter. Gemäss verschiedenen Quellen bewegen sich die Stundenlöhne für Betreuungspersonal in Asylzentren privater Firmen nicht selten nur wenig über 20 Franken. Das ist etwas mehr als der Mindestlohn einer Putzfrau.  Die ORS bestreitet, ihr Personal zu Tieflöhnen zu entschädigen. Die durchnittlichen Brutto-Stundenlöhne lägen über 25 Franken. Wie einträglich das Asylgeschäft ist, darüber schweigt sich die ORS aber aus: Der Gewinn bleibt Geschäftsgeheimnis.

Basler Behörden schweigen

Unter Verschluss bleibt auch, wie viel der Kanton Basel-Stadt der ORS für den Betrieb des Zentrums zahlt – trotz Öffentlichkeitsprinzip. Trans­parent, aber umso erstaunlicher, ist nur: Der Kanton Basel-Stadt macht der ­Betreuungsfirma eine einzige Auflage in ­Sachen Betreuung. Diese muss rund um die Uhr gewährleistet sein. Dies bestätigt ­Renata Gäumann von der kantonalen Koordinationsstelle Asyl- und Flüchtlingswesen. Je nach Gruppengrösse und Zusammensetzung sei der Bedarf unterschiedlich. Wie viele Betreuerinnen und Betreuer die ORS einsetzt, ist nicht Bestandteil des Vertrags zwischen dem Kanton und der Betreiberfirma. Dies kann die ORS selbst bestimmen.

Auch die heftige Kritik des Bundes an der ORS hat in Basels Amtsstuben niemanden aufgeschreckt. Im Basler Asylzentrum seien nur Männer einquartiert, erklärt Gäumann. Dies sei nicht vergleichbar mit dem kri­tisierten Bundeszentrum, in dem ­Familien lebten. «Wir sind mit der ­Zusammenarbeit mit der ORS sehr zufrieden», sagt sie.
Die ORS erklärt, es sei in Basel zwar in Einzelfällen zu schwierigen Situationen gekommen, bei welchen auch die Polizei zugezogen werden musste. Aber: «Solche Eskalationen könnten überall passieren», sagt ORS-Sprecher Roman Della Rossa, ob ­dabei eine oder mehrere Betreuende ­anwesend seien, sei für die Konflikt­bewältigung nicht mass­gebend.

Was aus dem Betreuer geworden ist, der bei der Messerstecherei zwischen die Fronten geriet, will die ORS aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nicht sagen. Nur so viel: Der ­Mitarbeiter arbeite heute nicht mehr bei der ORS.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.11.12

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