Mit einem 1:1 Unentschieden zeigt Atlético Madrid dem FC Barcelona den Meister. Mit einem Viertel des Budgets – verglichen mit Barça – hat Trainer Diego Simeone eine Mannschaft aufgebaut, die sich gegen Superstars wie Messi behaupten kann. Respekt!
Es ist nicht auszuschliessen, dass Diego Simeone, Trainer von Atlético Madrid, es genau so wollte. Je schwerer ein Moment, desto mehr zeigt sich der Charakter, und der Charakter, so sein fester Glaube, ist das wichtigste, um Fussballspiele zu gewinnen. Oder Meisterschaften. Um das Märchen von Atlético zu würdigen, lohnt also vielleicht noch mal ein kleiner Rückblick auf die Situation bei Halbzeit des letzten Spieltags in Barcelonas kolossalem Camp Nou.
In der Vorwoche hatten seine Spieler die Chance vergeben, zuhause den Titel vorzeitig zu gewinnen. Im dadurch bedeutsamen Saisonfinale beim direkten Konkurrenten hatten sie nach 25 Minuten ihren Sturmstar Diego Costa und Kreativleader Arda Turan durch Verletzungen verloren, unter Tränen der Untröstlichen. Sie waren nach 33 Minuten durch ein Traumtor von Alexis Sánchez in Rückstand geraten. Sie spielten in den Farben eines Klubs, der seit 18 Jahren keine Meisterschaft gewonnen hatte. Gegen einen Klub, der vier der letzten fünf gewonnen hatte.
«Ich war zuversichtlich», sagte Simeone später. «Ich wusste, dass die Spieler sich nicht runterziehen lassen würden. Ich kenne sie.»
Mit Ehrgeiz und Köpfchen
Atlético kam früh aus der Kabine zurück. Es wartete nur darauf weiter zu machen. Beim ersten Angriff traf David Villa den Pfosten. Den zweiten entschärfte Barças Ersatztorwart Pinto mit einer seiner unkonventionellen Einlagen am Rande des Slapsticks. Den dritten, einen Eckball, köpfte Verteidiger Diego Godín zum Ausgleich ins Tor.
Es waren fünf Minuten vergangen in der zweiten Halbzeit. Fünf Minuten von einer Entschlossenheit, die keinen Zweifel daran zuliessen, wem dieser Titel gebührte. Mit dem 1:1 im Camp Nou gewann Atlético die Liga, überwiegend mit denselben Spielern, die Simeone vor zweieinhalb Jahren auf Tabellenplatz elf übernommen hatte.
Ein Champion mit einem Viertel des Barça-Budgets
Meister sind jetzt: Die brasilianischen WM-Zuschauer João Miranda und Filipe Luis, beide aussen vor im Turnierkader, und nicht die brasilianischen WM-Stammkräfte Dani Alves (Barcelona) oder Marcelo (Real Madrid). Meisterkapitän ist Gabi Fernández, null Länderspiele für Spanien, nicht Xavi, Puyol oder Iker Casillas.
Meister sind auch nicht Lionel Messi und nicht Cristiano Ronaldo, sondern Meister ist David Villa, vorigen Sommer aussortiert beim FC Barcelona. Es ist das erste Mal seit Valencia 2004, dass ein anderer Klub ausser den beiden Grossen die Liga gewonnen hat, und es ist ein Champion mit einem Viertel der Budgets von Real und Barça.
Ständiger Kampf gegen Widrigkeiten
Aber bei Atlético gibt es keine einfachen Spiele. Ob es gegen Barça geht, gegen das man über verschiedene Wettbewerbe sechsmal ungeschlagen blieb; ob gegen Almería oder Levante. Atlético ist keine Elf für unangestrengte Brillanz. Das Lebensgefühl der «Colchoneros», der Matratzenmacher, ist ein anderes – der «ständige Kampf gegen Widrigkeiten» (Simeone).
Aber diese Saison war Atlético natürlich noch viel mehr, strategisch vollkommen, geübt in der Variation von Dominanz und Rückzug, stilsicher in seinem robusten Fussball. Während Barcelona und Real Madrid nie Stabilität in ihre Darbietungen brachten, blieb sich Atlético vom ersten bis zum letzten Spieltag treu. Auch deshalb ging dieser Titel verdient in den Süden der Hauptstadt.
Nach dem Schlusspfiff applaudierte Barcelonas Publikum fair. Im Camp Nou mögen sie normalerweise eine feinere Klinge bevorzugen, aber die gab es an diesem Abend von der eigenen Mannschaft noch weniger zu sehen, und ausserdem kann sich kaum jemand der Einer-für-alle-Romantik des neuen Meisters entziehen. Geschichten wie die von Atlético sind ja eigentlich nicht mehr vorgesehen in der heutigen Fussball-Welt mit ihren Mega-Deals und Money-Leagues. Mit ihren immergleichen Premium-Marken. Jetzt hat ein Underdog den Etablierten den Spiegel vorgehalten.
Die Rache der Aussenseiter
Der vermeintliche Motivationstrick des FC Barcelona jedenfalls, einen Tag vor dem Ligafinale eine bevorstehende Gehaltserhöhung von Lionel Messi bekannt zu geben – die Rede ist von rund 20 Millionen Euro netto –, wollte nicht so recht funktionieren: Messi wurde auch zum sechsten Mal in dieser Saison von Atléticos Kollektiv aus dem Spiel genommen. Warum schon wieder – von Barças Seite war darüber nichts zu erfahren. Trainer Gerardo Martino betrat den Pressesaal mit dem einzigen Motiv, in einem unterwürfigen Mea Culpa («Ich bedaure zutiefst, den Spielern nicht geholfen haben zu können») seinen allseits erwarteten Rücktritt zu erklären.
«Es endet eine grandiose Saison für eine Mannschaft, die nie aufgehört hat zu kämpfen, und die sich sehr nahe den vielen Menschen auf der Welt fühlt, die gegen vielen Schwierigkeiten kämpfen», erklärte derweil Simeone am gleichen Ort. Atlético: die Rache der Aussenseiter, der Marginalisierten und Belächelten.
Zum finalen Interview brachte er sein gesamtes Trainerteam mit («sie alle arbeiten hart, vielleicht härter als der Typ, der immer im Fernsehen zu sehen ist»), und am Ende wollte er in der Heimat des gepflegten Kurzpasskicks auch noch eine Grundsatzbotschaft über das Spiel loswerden. Sie war ihm so wichtig, dass er sie ungefragt hinterliess: «Diese Meisterschaft bedeutet, dass man im Fussball auf verschiedene Weisen gewinnen kann. Und dass alle gleich gut sind. Unser Erfolg ist eine Chance für andere sich aufzuraffen.»
Auf den Tag genau ein Jahr zuvor hatte Atlético im Pokalfinale gegen Real in dessen Estadio Santiago Bernabéu gesiegt. Nun die Meisterschaft gegen Barcelona im Camp Nou. «Ich bin mir sicher», sagte Simeone, «dass es viel mehr Fans von Atlético gibt nach den letzten zwei, drei Jahren». Zu denen gehört ausserdem noch ein Europa-League-Sieg und der Einzug ins Endspiel der Champions League am Samstag in Lissabon gegen Real Madrid, wo Atlético wohl zumindest auf Costa wird verzichten müssen. Doch wer denkt, das würde Panik auslösen, hat dieses Team immer noch nicht verstanden.