Attacke auf offener Strasse

Zwei Dschihadisten ermorden auf offener Strasse einen Soldaten. Eine solche Attacke haben Terroristen-Experten schon seit Längerem erwartet als Symptom einer neuen Taktik.

Passanten legen Blumen nieder für den im Londoner Stadtteil Woolwich ermordeten Soldaten (Bild: FACUNDO ARRIZABALAGA)

Zwei Dschihadisten ermorden auf offener Strasse einen Soldaten. Eine solche Attacke haben Terroristen-Experten schon seit Längerem erwartet als Symptom einer neuen Taktik.

Am Mittwochnachmittag, etwa um 14.15 Uhr war der 25jährige Soldat Lee Rigby, Vater eines zweijährigen Sohns, in der Nähe seiner Kaserne im Londoner Stadtteil Woolwich auf dem Trottoir unterwegs. Er trug ein T-Shirt des Hilfswerkes «Help for Heroes», das sich um das Wohl von Soldaten kümmert, die im Laufe des Militärdienstes verwundet worden sind. Die zwei Terroristen näherten sich in einem blauen Vauxhall, den sie aufs Trottoir steuerten, um den Soldaten von hinten niederzufahren. Danach stürzten sie sich mit Küchen- und Buschmessern auf ihn und stachen auf ihn ein. Den leblosen Körper zerrten sie vor den Augen entsetzter Zeugen auf die Strasse.

Als Passanten eingreifen wollten, rannte einer der Männer zum Auto zurück und holte ein Gewehr. Danach zwang einer der Angreifer einen Passanten, ihn zu filmen. Während er mit der blutigen rechten Hand wild gestikulierte, hielt er in der linken die blutverschmierten Mordwaffen. «Der einzige Grund dafür, dass wir diesen Mann heute umgebracht haben», sagte er direkt in die Kamera, «ist der, dass Muslime täglich von britischen Soldaten umgebracht werden. Es tut mir leid, dass die Frau dort drüben Zeuge der Tat hat sein müssen. Aber in unseren Ländern müssen Frauen täglich die gleichen Bilder sehen.»

Britischer Attentäter

Der Doktrin von al-Qaida folgend halten Dschihadisten die Präsenz von westlichen Soldaten im muslimischen Afghanistan für einen Kriegsakt. Und darin wiederum sehen sie die Berechtigung für ihre Attentate, die in ihren Augen nichts anderes sind als legitime Kriegseinsätze. Von den beiden Attentätern in Woolwich ist bisher erst einer offiziell identifiziert worden. Es handelt sich um einen gewissen Michael Adebolajo, einen Briten, dessen Vater aus Nigeria stammt.

Die Polizei riegelte noch am gleichen Tag ein Haus in einem gutbürgerlichen Quartier im nordostenglischen Städtchen Saxilby ab, wo Adebolajo bis vor einigen Monaten lebte. Adebolajo und sein Partner sprachen am Tatort mit mehreren umstehenden Zeugen und erklärten dabei, sie hätten vor, Polizisten sofort anzugreifen, sollten sich diese ihnen nähern. Unbewaffnete Polizisten beobachteten die Szene deshalb aus sicherer Distanz, ehe eine bewaffnete Spezialtruppe eintraf. Gemäss Zeugen soll sich einer der Terroristen auf diese zugestürzt haben, worauf mehrere Schüsse fielen. Die beiden Attentäter wurden schliesslich in zwei verschiedene Spitäler gebracht. Einer soll schwer verletzt sein.

Britische Muslime verurteilen den Mord scharf

Der Soldatenmord wurde rundum verurteilt. Auch Vereinigungen von Muslimen, die sich bei jihadistischen Angriffen bis anhin zurückhaltend geäussert hatten, reagierten diesmal mit scharfen Verurteilungen. Premierminister Cameron erklärte, der Anschlag sei «eine Attacke auf Grossbritannien und ein Verrat am Islam». Julie Siddiqi von der Islamic Society of Britain rief zur Ruhe und Besonnenheit auf: «Es war ein Angriff auf unser Land, auf uns alle. (…) Es gibt dafür keinerlei Rechtfertigung.»

Bürgermeister Boris Johnson erklärte, die Gründe für das Verbrechen seien einzig und allein in den verblendeten Köpfen der Täter zu suchen. The Muslim Council of Britain, eine Dachorganisation der britischen Muslime, liess verlauten: «Dies ist ein barbarischer Akt, der keinerlei Basis im Islam hat und der von uns in aller Form verurteilt wird. (…) Diese Tat wird ohne Zweifel die Spannung in den Strassen des Vereinigten Königreiches verstärken. Wir rufen alle Menschen, Muslime und Nicht-Muslime, dazu auf, solidarisch zusammenzukommen, damit die Kräfte des Hasses nicht obsiegen.»

Rechtsextreme schlachten Anschlag aus

Am Mittwochabend versammelten sich etwa einhundertfünfzig Mitglieder der rechtsextremen English Defense League in Woolwich und skandierten anti-muslimische Slogans. Die Demonstranten bewarfen die Polizei mit Flaschen, ehe sie sich zerstreuten. Premierminister Cameron beordnete von Paris aus, wo er für ein Treffen mit dem französischen Präsidenten François Hollande weilte, eine sofortige Sitzung des Notfallkomitees «Cobra» ein. Am Donnerstag nahm er selber an einer weiteren Sitzung teil. Das Komitee hält die Gefahr von Terrorattacken für «substantiell».

Die Financial Times meldet, dass beide Terroristen dem Sicherheitsdienst schon bei früherer Gelegenheit aufgefallen seien und teilweise unter Beobachtung gestanden hätten. Ein Angriff auf britische Soldaten im eigenen Land sei seit längerer Zeit befürchtet worden, zumal es dem Geheimdienst schon 2007 gelang, den Plan von Dschihadisten zu vereiteln, einen britischen Muslim-Soldaten zu kidnappen und zu enthaupten. Wie der frühere Innenminister und Terror-Experte Lord Reid der BBC erklärte, sei es indes äusserst schwierig, sogenannte «Lone Wolf»-Attacken zu verhindern. Gemeint sind Attacken von Einzeltätern, die in Aktion treten, ohne sich vorher mit Gesinnungsgenossen ausgetauscht zu haben.

Einsame Wölfe

Seit 2007 haben sich die Terrororganisationen ihre Methoden stark verändert. Früher hatte Al-Qaida die Anschläge zentral organisiert. Unterdessen werden Sympathisanten über diverse Internetforen dazu angehalten, in eigener Regie aufzutreten. Und früher war es dem Geheimdienst möglich, die Bewegungen von angehenden Terroristen anhand ihres Handy-Verkehres zu beobachten. Heute wird im Terroruntergrund vorab über SMS und E-Mails kommuniziert, was wesentlich schwieriger zu überwachen ist.

London blickt auf eine lange, düstere Geschichte von mörderischen Terrorangriffen zurück. Es entbehrt nicht der traurigen Ironie, dass am gleichen Tag, an dem in Woolwich zwei Dschihadisten am helllichten Tag auf offener Strasse einen Mord begingen, in Gatwick ein Mann verhaftet wurde, der im dringenden Verdacht steht, 1982 an einem Bombenanschlag der IRA (Irish Republican Army) beteiligt gewesen zu sein, bei der vier Soldaten und sieben Pferde ums Leben kamen.

Briten bleiben ruhig

Wie seit den frühesten Bombenanschlägen der IRA so oft reagiert die britische Öffentlichkeit einerseits mit Schrecken, andererseits mit stoischer Ruhe. Wenn man sich von derartigen Anschlägen einschüchtern liesse, meint eine grosse Mehrheit, würde man den Terroristen das Feld räumen. Allerdings steht zu befürchten, dass rechtsextreme Organisationen wie die English Defense League die Situation ausnützen werden, ihre rassistische Agitation zu verstärken, besonders in Gegenden wie im Nordwesten von England oder in Ostlondon, wo zur Zeit eh schon rassistisch motivierte Konflikte schwelen.

Derweil Sicherheitsdienste in den nächsten Wochen auf Alarmstufe Eins operieren werden, dürfte ansonsten die Angst vor einer weiteren Attacke im Alltag aber wohl kaum bemerkbar sein. Im Hinblick auf den Champions League-Final am kommenden Samstag werden die Sicherheitsdienste verdächtige Zellen jetzt aber noch genauer unter die Lupe nehmen. Doch eine Garantie, dass nicht «einsame Wölfe» irgendwo und irgendwann wieder wie in Woolwich Anschläge ausführen, gibt es nicht.

Nächster Artikel