Wahrscheinlich ist der Abba-Song von 1974, in dem eine triviale Liebesbeziehung mit der Schlacht bei Waterloo in Beziehung gesetzt wird, viel bekannter als die Schlacht selber, die sich in unseren Tagen zum 200. Mal jährt und eigentlich auch in der Schweiz zum nationalen Erinnerungsgut gehören sollte.
Waterloo? Vielleicht denken wir bei diesem Namen auch an den Londoner Megabahnhof, der 1848 nach der nahegelegenen Waterloo Bridge benannt ist. Diese wiederum wurde 1816/1817 nun aber doch in Erinnerung an die in der Nähe von Brüssel ausgetragene Megaschlacht vom 16. Juni 1815 benannt.
Als E. S. Creasy 1863 erstmals sein Buch über die 15 wichtigsten Schlachten der Welt herausgab, bildete Waterloo selbstverständlich den grossen Schlusspunkt. Verdun, Gallipoli, El Alamein, Stalingrad u.a. sollten erst später stattfinden. Waterloo besiegelte das Ende der napoleonischen Gewaltherrschaft über Europa und ein persönliches Desaster für den Empereur. Waterloo wurde im übertragenen Sinn aber nicht zum Inbegriff einer Epochenwende, sondern eben einer vernichtenden Niederlage, die jemand persönlich erfährt.
Neuauflage als grosses Spektakel
Was die Dimensionen der Schlacht betrifft, der Zahl der eingesetzten Kämpfer, Pferde und Geschütze, blieb Waterloo hinter der Völkerschlacht von Leipzig von 1813 mit ihren rund 92’000 Toten und Verletzten zurück. Waterloo erhielt seinen eindrücklichen Platz, weil das grosse und dichte Gemetzel auf engstem Raum und in kürzester Zeit stattfand: 42’000 bis 54’000 Tote und Verwundete an einem Tag. Jemand hat darum rechtzeitig auf 2015 ein Buch mit dem Titel «Der längste Nachmittag» gemacht, was eine Variation des «longest day»-Films von 1962 zur Invasion in der Normandie vom 6. Juni 1944 sein könnte.
In diesen Tagen kehrt Waterloo am ursprünglichen Schauplatz in Belgien über Reenactment zurück (Eröffnung am Abend, 18. Juni). Dies entspricht offenbar einem bestehenden Bedürfnis und ist sicher ein gutes Geschäft.
Unterhaltend, aber mit den Schlachten von damals hat Reenactment wenig zu tun. (Bild: SGT RUPERT FRERE RLC / BRITISH MINISTRY OF DEFENCE / HANDOUT)
Angeboten wird eine Inszenierung, von der es heisst, dass es sie in dieser Grössenordnung in Europa bisher noch nicht gegeben habe: 5000 Statisten, 300 Pferde und 100 Artilleriegeschütze. Man habe die Möglichkeit, die grossartige Rekonstruktion von zwei unterschiedlichen Phasen der Schlacht «von der ersten Reihe aus» zu beobachten. Viele Teilangebote sind bereits ausverkauft, aber ein Combi-Pass für 92.75 Euro ist im Moment der Niederschrift dieser Zeilen noch zu haben.
Das Spektakel wird das wahre Gesicht dieses Krieges nicht zeigen, was ja auch keine erbauliche Unterhaltung wäre. Der Schlachtverlauf von Waterloo ist schon mehrfach beschrieben worden und ist eigentlich, wenn man kein Amateur-Feldherr ist, von sehr beschränktem Interesse. Neu ist dagegen der Blick auf die von Paul O’Keeffe in seinem Buch «The Aftermath» (2014) aus der Sicht zahlreicher Zeitzeugen geschilderten Vorgänge unmittelbar nach der Schlacht.
Amputationen und entrissener Besitz
Soldaten berichteten über die Totenstille, die auf dem mit Toten und Verwundeten übersäten Schlachtfeld geherrscht habe. In Wirklichkeit war es aber alles andere als still. Man denke nur an die Schreie der Verletzten. Aber viele hatten wegen des Artillerielärms für Tage ihr Gehör verloren. Die Schilderungen der vielen Amputationen (mehr Beine als Arme) nahmen in den zeitgenössischen Schilderungen einen breiten Platz ein wie auch das nicht zu bewältigende Problem, die vielen Leichen in Massengräbern zu verscharren oder zu verbrennen. Auch war von den plötzlich in grosser Zahl auftauchenden Fliegen die Rede.
Die Kämpfe waren noch nicht zu Ende, da stürzten sich nicht nur Mitkämpfer, sondern auch Bauern der Gegend auf die schon Toten und die noch nicht Toten, nahmen ihnen ab, was von Interesse war: vor allem die Taschenuhren, Brillen, Stiefel, Goldtressen; dies mit der Konsequenz, dass viele Gefallene nackt herumlagen und man weder den militärischen Grad noch die Nationalität der Toten feststellen konnte.
Mit vollem Rohr auf die Franzosen: Nachstellung einer historischen Schlacht. (Bild: SGT RUPERT FRERE RLC / BRITISH MINISTRY OF DEFENCE / HANDOUT)
Zu erinnern ist, dass sich in Waterloo keine homogenen Heermassen gegenüber standen. Auf der Seite der Alliierten waren es Nassauer, Hannoveraner, Braunschweiger, Niederländer, Wallonen, eine deutsche Legion, ein paar Briten und die grosse Armee der Preussen. Die andere Seite war homogener, bestand weitgehend aus Franzosen, hatte aber auch andere Soldaten, zum Beispiel aus der Schweiz, in ihrem Reihen.
Bei der Jagd nach Beute war unklar, was Raub und was bloss Aneignung von «lost property» war. Besonders begehrt waren Zähne, die für die Herstellung von Gebissen verwendet wurden. Waterloo-Zähne, weil von jungen Menschen stammend, waren auf dem Londoner Markt begehrter als die üblichen Zähne von Alten und Kranken (oder Hingerichteten).
Nach den Plünderern die Touristen
Eindrücklich war auch, wie das Schlachtfeld nach und nach von herumliegendem Papier übersät war, nachdem die Plünderer die Taschen der Toten geleert hatten. Es gab zahlreiche Bibeln, aber auch Jasskarten und noch nicht abgeschickte Liebesbriefe. Den toten Pferden wurden, soweit sie damit versehen waren, die Hufeisen abgenommen. Reiterlose Pferde wurden als besondere Gefahr bezeichnet, weil sie, von ihren Wunden geplagt, umhergaloppierten und dabei am Boden liegende Verwundete zusätzlich verletzten.
Gleich nach den Plünderern kamen die Touristen, zum Teil in geführten Gruppen, denen man zeigte, von welcher Stelle aus Wellington seine Truppen leitete oder in welchem Bett welcher General sein Leben aushauchte. Auffallend viele Frauen. Vom jetzt einsetzenden Strom der Touristen sagt O’Keeffe, dass er in den folgenden 200 Jahren nicht versiegen wird – «that would continue for the next two centuries». Auch Dichter (z.B. Lord Byron) oder Maler (z.B. J. M. W. Turner) kreuzten auf. Mit den Touristen wurde der Souvenirhandel (z.B. mit Uniformknöpfen) wichtig. Als sakrale Handlung ist zu verstehen, dass eine Lady etwas Asche von verbrannten Leichen britischer Gardesoldaten mit nach Hause nahm.
Waterloo befreite die Schweiz vom Vasallenstatus, von der Kontinentalsperre, Warenlieferungen, der neutralitätswidrigen Blockzugehörigkeit und anderem mehr.
Obwohl man im Waterloo-Monumentalfilm von 1970 (mit Rod Steiger als Napoleon) grimmige Schweizer Söldner weinen sah, sollen bei Waterloo keine Schweizer gekämpft haben. Ein Schweizer Bataillon wurde im 20 Kilometer entfernten Wavre jedoch durchaus dem Ruf der tapferen und tüchtigen Eidgenossen gerecht und besiegte dort die aufgestellten preussischen Truppen. Zu Hause hatte man an diesen Helden aber keine Freude: Sie wurden offiziell von weiteren Solddiensten ausgeschlossen, und die Offiziere verloren ihr Heimatrecht. Gleiches hatten die Offiziere, die sich auf der Gegenseite den Alliierten zur Verfügung stellten, wohl nicht zu befürchten.
Der Ausgang der Schlacht von Waterloo hatte tiefgehende Konsequenzen auch für die kleine Schweiz. Sieg der einen und Niederlage der anderen hätten in der Schweiz eigentlich bejubelt werden müssen. Läuteten damals – wie 1945 – die Glocken? Darüber wird nichts berichtet. Das gängige Geschichtsnarrativ hüpft vom Wiener Kongress mit den Bestimmungen vom März 1815 zum Umfang des schweizerischen Territoriums direkt zum Zweiten Pariser Frieden vom November 1815 mit der viel zitierten Neutralitätsanerkennung. Doch: Wie 1945 der Sieg der Alliierten indirekt dafür sorgte, dass die Schweiz unabhängig blieb, gewann die Schweiz bereits 130 Jahre zuvor die ihre Unabhängigkeit dank dem Sieg der damaligen Alliierten.
Schweizer Lob für Napoleon
Waterloo befreite die Schweiz vom Vasallenstatus, von den Zwangsrekrutierungen von immerhin 12’000 Mann für die französische Armee, von der Kontinentalsperre, Warenlieferungen, der neutralitätswidrigen Blockzugehörigkeit und anderem mehr.
Andererseits hatte die Schweiz, was die innenpolitische Ordnung betrifft, einiges Napoleon zu verdanken. Darum ist die Grundeinstellung diesem Gewaltherrscher gegenüber bemerkenswert positiv. Das zeigte sich, als man 2003 das 200-Jahr-Jubiläum zur Mediationsakte beging. Verständlicherweise machte sich im Februar 2003 eine Delegation von 60 Repräsentanten der Eidgenossenschaft auf den Weg nach Paris: die sechs Kantone Aargau, Graubünden, St. Gallen, Tessin, Thurgau und Waadt, die alle ihre Anerkennung Napoleon zu verdanken hatten, plus der damalige Vorortskanton Freiburg und die Bundes- und Nationalratspräsidenten. Dabei gab es höchstes Lob für Napoleon, also den Mann, der mit der mörderischen Schlacht vom Juni 1815, nachdem er schon einmal stillgelegt worden war, eine Rückkehr (Comeback) versuchte und dort, wie gesagt, sein «persönliches Waterloo» erlebte.
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Wie lange dauerte die Anreise der Kavaliere nach Waterloo und wie kommunizierte man damals? GoEuro hat diese und weitere Informationen grafisch aufbereitet – wer mehr sehen will, dem empfiehlt sich ein Klick: