Auch nach dem Mord an Boris Nemzow wird sich in Russland nichts ändern

Kaum jemand in Russland wage sich aus seiner privaten Komfortzone heraus, schreibt der Schriftsteller Sergej Lebedew, die Opposition sei «zum Warten verdammt». Daran wird auch der Mordfall Nemzow nichts ändern.

«Als wir 2011 aufhörten zu schweigen, war es bereits zu spät. Deshalb gibt es heute keine Opposition», schreibt Schriftsteller Sergej Lebedew. (Bild: Oleg Borodin / n-ost)

Kaum jemand in Russland wage sich aus seiner privaten Komfortzone heraus, schreibt der Schriftsteller Sergej Lebedew, die Opposition sei «zum Warten verdammt». Daran wird auch der Mordfall Nemzow nichts ändern.

Dort, auf der Brücke am Kreml, wo die feuchte, graue Luft mit dem Geruch von heissem Kerzenwachs und verwelkten Blumen erfüllt war, erinnerte ich mich an mein erstes und einziges Treffen mit Boris Nemzow. Es hatte ein paar Schritte weiter im Hotel «Rossija» («Russland») stattgefunden, das später abgerissen wurde. An seiner Stelle befindet sich heute eine umzäunte Brachfläche. Wir trafen uns in einem Russland also, das es heute nicht mehr gibt.

Es war im Herbst 2003, am Vorabend der Duma-Wahlen. Nemzow war Duma-Abgeordneter und seine Partei «Union der rechten Kräfte» («Sojus prawych sil», kurz SPS) erwies einer journalistischen Untersuchung, die meine Zeitung durchführte, parlamentarische Unterstützung. Ich arbeitete damals für die pädagogische Zeitung «Erster September». Wir recherchierten den Tod eines Schuljungen während eines schulischen Militärtrainings.

Der russische Schrifsteller Sergej Lebedew

Ich erinnere mich noch daran, dass Nemzow und seine Parteigenossen an sich glaubten. Sie waren sich sicher, dass sie ins Parlament kommen würden und witzelten fröhlich darüber. Damit ich zum Flughafen fahren und die Leute abholen konnte, die im Zentrum unserer Untersuchung standen, lieh Nemzows Partei mir einen schwarzen BMW mit Blaulicht, ein Auto, das sonst obersten Staatsbeamten zusteht.

Parlament ohne Opposition

Doch nach anderthalb Monaten war es mit all dem vorbei. Die zwei demokratischen Parteien – Jabloko und Nemzows SPS – verloren die Parlamentswahlen, weil sie an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Beide bekamen in etwa vier Prozent. Ich erinnere mich an die Totenstille in der Redaktion, als die Zentrale Wahlkommission im Fernsehen die Ergebnisse bekannt gab. Es war erschütternd. Ein Parlament ohne Opposition?

Für die ehemaligen Abgeordneten war es sicher noch erschütternder. Während der vier folgenden Jahre schafften sie es nicht, sich auf ein Parteienbündnis zu einigen. Damals sahen ihre Differenzen zu prinzipiell und ihre Streitigkeiten zu wichtig aus.

2007 erlebten die Demokraten ihre zweite und endgültige Niederlage. Jabloko bekam eineinhalb, SPS knapp ein Prozent der Stimmen. Die Zeit, die man mit Diskussionen über eine Vereinigung verschwendet hatte, war nicht mehr zurückzuholen.

Bereits seit mehr als elf Jahren, seit Dezember 2003, ist die Opposition im Feld öffentlicher Politik nun nicht mehr vertreten.

Ja, es gab eine andere Opposition, eine Protestbewegung ausserhalb des Systems – die Nationalbolschewiken und die Nationalisten. Sie führten radikale Aktionen durch, besetzten Gebäude, hingen Banner auf – aber es blieb bei reinen Aktionen.

Inzwischen ist eine Generation in einem Land herangewachsen, in dem es nur «die Regierungspartei» und deren Verbündete gibt – oder deren Klone. Diese Menschen sind in einem «gesäuberten» politischen Feld erwachsen geworden, sie waren nie «political animals».

Rückzug in die Komfortzone

Bürgerschaftliches Engagement bestand seitdem hauptsächlich in Wohltätigkeit. Die Menschen waren bereit, die Fehler und Missstände des Staates wiedergutzumachen, für Kinder- und Altersheime Geld zu sammeln, aber sie waren nicht dazu bereit, das eigene Staatssystem zu verändern. Das hätte bedeutet, die Komfortzone verlassen zu müssen.

Die Komfortzone gewährleisteten wachsende Einkommen und das allgemeine Wohlstandswachstum, das dem steigenden Ölpreis zu verdanken war, und sie entstand durch die Konjunkturentwicklung, welche neue Arten intellektueller Arbeit schuf.

«Die Forderung nach ‹ehrlichen Wahlen› klang würdevoll. Dahinter hegte man jedoch keinerlei Hoffnungen, diese Wahlen gewinnen zu können.»

Proteststimmung kam 2011 auf, als klar wurde, dass Präsident Dmitri Medwedjew gehen und Wladimir Putin erneut gewählt werden würde. Der unehrliche Kniff, die Unehrlichkeit, führte dazu, dass das Motto «Für ehrliche Wahlen» zur Losung des Protests wurde – seltsamerweise ein apolitisches Motto.

Die Forderung nach «ehrlichen Wahlen» klang würdevoll. Dahinter hegte man jedoch keinerlei Hoffnungen, diese Wahlen gewinnen zu können. Es war das Angebot, nach den Regeln zu spielen – und dahinter die Unfähigkeit, überhaupt am Spiel teilnehmen zu können. 

Es war ein sozialer, kein politischer Protest. Ein Protest, der von der sogenannten kreativen Klasse ausging. Es war ein ausserparteilicher Protest, der nicht mit Ideen, Losungen und politischen Formen operierte, sondern mit Zeichen einer unbestimmten moralischen Solidarität – mit weissen Bändern.

«Freiheitsinseln», kein allgemeines Phänomen

So, wie in der Sowjetunion das «Tauwetter» der Sechzigerjahre von Menschen eines ganz bestimmten kulturellen Kreises in Gang gesetzt wurde, so wurde auch das Tauwetter 2011/2012 von Menschen eines ganz bestimmten kulturellen Kreises in Gang gesetzt, der aus Absolventinnen und Absolventen einer überschaubaren Anzahl von Schulen und Universitäten – sogenannten «Freiheitsinseln» – bestand, welche ein Konzept menschlicher Beziehungen in der humanistischen Tradition vertreten. Aber dieses Phänomen ist eben ein kulturelles und kein politisches.

Angesichts der heutigen Realien kann man den Protest von 2011/2012 als ziemlich infantilen Versuch sehen, an die Macht zu appellieren und auf sich aufmerksam zu machen. 

Natürlich bewirkte dieser zahnlose Protest nur, dass die Schrauben des staatlichen Machtapparats noch fester angezogen und die Demonstranten auf dem Bolotnaja-Platz im Mai 2012 wegen angeblicher Angriffe auf die Polizei verhaftet wurden.

Warten auf einen günstigen Zeitpunkt?

So begann sich der moralische und physische Druck zu verschärfen. Auf einer Kundgebung muss man nun darauf gefasst sein, geschlagen und für 15 Tage eingesperrt zu werden. Im öffentlichen Umfeld muss man sich auf moralischen Schaden einstellen, darauf, dass man verleumdet und als Verräter bezeichnet wird – persönlich oder als Gruppe. Das spaltet viele ab.

Es bleibt ein Freundeskreis, in dem alle über eine oder zwei Personen miteinander bekannt sind, ein Kreis ratlos Zurückgebliebener, die nicht wissen, was sie weiter tun sollen. Denn die Wahl ist im Weiteren sehr einfach.

«Unsere Generation ist in gewisser Hinsicht mit der Leichtigkeit verwöhnt worden, mit der die UdSSR zusammenbrach.»

Klar ist, dass Putin die Macht nicht freiwillig abgibt. Klar ist, dass die Protestierenden in der Minderheit sind. Und entweder muss man sich geschlagen geben oder eine radikale Minderheitenpartei gründen, eine Partei leninistischen Typs, eine illegale Partei, und auf eine günstige Konjunktur der Geschichte warten, wie sie im Jahr 1917 stattfand. Und dafür muss man mit Verhaftungen, mit seinem Leben und mit seinem Schicksal für den gewählten Weg bezahlen.

Wir haben gelernt, uns zu verstecken

Aber unsere Generation ist in gewisser Hinsicht mit der Leichtigkeit verwöhnt worden, mit der die UdSSR zusammenbrach. Ausserdem sind wir die Kinder von Menschen, die gelernt hatten, sich an die Umstände anzupassen, in vor dem Staat verborgenen «Nischen» zu überleben, eine alternative Tagesordnung zu erstellen.

Wir sind die Kinder von Menschen, die gelernt hatten, Loyalität zu demonstrieren – und hinter dem Rücken eine lange Nase zu drehen. Kinder von Menschen, die das Leben gelehrt hatte, nicht aufzufallen, nichts zu riskieren, den Gehorsam zu wählen. So lebte die Mehrheit der Menschen in der späten UdSSR. Und ich denke, das sitzt sehr tief in uns, für rationale Verhaltenstaktiken unerreichbar.

Die Losung der Protestaktionen aus den Jahren 2011 und 2012 war «Ihr kennt uns nicht einmal». Aber wir kennen uns ja selbst nicht einmal, es gibt für uns keine andere Lebenserfahrung, aus der wir schöpfen könnten.

Die Mehrheit von uns hat während der Anfangsjahre des neuen Jahrtausends geschwiegen. Geschwiegen, als die Geiselnahme von Beslan passierte. Geschwiegen, als die Gouverneurswahlen abgeschafft wurden. Geschwiegen, als Anna Politkowskaja ermordet wurde – an Putins Geburtstag. Geschwiegen, als die Farce mit Präsident Medwedjew gespielt wurde. Und als wir 2011 aufhörten zu schweigen, war es bereits zu spät. Deshalb gibt es heute keine Opposition.

Keine Bedrohung

Einer der Teilnehmer am Trauerzug für Nemzow fragte einen Oberstleutnant der Polizei, warum die Eingänge zum Roten Platz nicht gesperrt seien. Der Oberstleutnant antwortete: Wir erwarten von euch keine Bedrohung.

Es ist ein erniedrigender, furchtbarer Zustand: zu wissen, dass einer von uns ermordet worden ist – wir aber keine Möglichkeit haben, eine transparente Ermittlung zu Wege zu bringen. Am Todesort vorbeizugehen, Gedenktribut zu zollen, Blumen niederzulegen – um dann jeder für sich wieder nach Haus zu gehen.

Halt suchen in historischen Parallelen: Ist es ein Mord wie der an Sergei Kirow, der als Auslöser des stalinistischen Terrors gesehen wird, oder ist es der Beginn des Jahres 1937? Wir sind zum Warten verdammt.

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Aus dem Russischen von Anna Burck.

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