Auch wenn Le Pen kaum Chancen hat, kann Europa noch lange nicht aufatmen

Nach dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen herrscht in Europa Erleichterung. Zu Unrecht.

Marine Le Pen holt für den rechtsextremen Front National eine Rekordzahl von Stimmen und trifft in der Stichwahl auf Emmanuel Macron. (Bild: sda)

Nach dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen herrscht in Europa Erleichterung. Zu Unrecht.

Gewiss, Marine Le Pen zieht nicht als Erstplatzierte in die Stichwahl und hat kaum Chancen, gegen den Parteilosen Emmanuel Macron eine Mehrheit zusammenzubringen. Nach Menschenermessen kann die Kandidatin des Front National ihren Stimmenanteil kaum von 7,6 Millionen am Sonntag in zwei Wochen auf 18 Millionen Stimmen erhöhen.

Das war allerdings schon vor dem ersten Wahlgang klar gewesen. Trotzdem legte die Pariser Börse am Montag stark zu, und trotzdem schreibt die selbsternannte Stimme Deutschlands, die Bildzeitung, Europa könne «aufatmen».

Wenn, dann nur kurzfristig. Tatsache ist, dass in Frankreich, der Wiege der Menschenrechte und der europäischen Idee, heute xenophobe EU-Gegner den Ton vorgeben. Le Pen hat die zwei Parteien, die seit 1958 das Leben der Fünften Republik abwechselnd bestimmten – die Republikaner und die Sozialisten – in die Ränge verwiesen. Und das geschah nicht so überraschend wie 2002, als Jean-Marie Le Pen in den zweiten Wahlgang vorstiess, sondern nach einem jahrelangen, regelmässigen Aufstieg des Front National zur stärksten Partei Frankreichs.

Die Probleme sind noch immer da

Das hat seine Gründe: «Nichts von dem, das Marine Le Pen möglich gemacht hat, wurde wirklich angegriffen oder bekämpft», meinte am Montag der Philosoph Michel Onfray. Die französische Politelite vernachlässigt nach wie vor all die Millionen von Ausgegrenzten, Arbeitslosen und Globalisierungsverlierern; und die EU hat bisher auch nicht die demokratische Antwort gefunden, die sie nach dem Brexit Englands versprochen hatte.

Einfach gesagt: Auch wenn Le Pen nicht in den Elysée-Palast einziehen dürfte, sind die Ursachen, die ihr und all den anderen Populisten in Europa so viel Auftrieb verleihen, keineswegs beseitigt. Das Pariser Linksblatt Libération kommentierte am Montag, die von Charles de Gaulle gegründete Fünfte Republik sei in einem Zustand «beunruhigender Fragilität».

Das ganze Verfassungssystem beruht auf der starken Stellung des Staatspräsidenten – doch seine Legitimität wird nun von Anfang schwach sein: Der Bestplatzierte Emmanuel Macron erhielt im ersten Wahlgang nicht einmal ein Viertel der Stimmen, bedeutend weniger als 2012 François Hollande, dessen Amtszeit ein einziger Kreuzweg war. Macron wird zudem dem Vorwurf ausgesetzt sein, den zweiten Wahlgang dank dem republikanischen Schulterschluss gegen Le Pen wie Jacques Chirac 2002 fast «automatisch» gewonnen zu haben. Chirac war danach kaum mehr handlungsfähig.

Leichtes Spiel für Le Pen und Konsorten

Die «Souveränisten» von rechts bis links, das heisst von Le Pen bis Jean-Luc Mélenchon, werden von Beginn weg gegen den neuen Herrscher im Elysée mobilisieren. Vonseiten der Republikaner und Sozialisten, die noch monatelang mit sich selber beschäftigt sein werden, hat er keine Hilfe zu erwarten. Solange die Strukturschwächen Frankreichs (Arbeitslosigkeit, Agrarkrise) und der EU (Demokratiedefizit, Euro-Widerspruch) weiter bestehen, werden Le Pen und Konsorten leichtes Spiel haben. Nach der Wahl von Sonntag kann Europa keineswegs Sturmentwarnung geben.

Nächster Artikel