Über dem Maidan stehen wieder Rauchwolken: Bürgermeister Vitali Klitschko fordert die dort verbliebenen Aktivisten auf, ihre Zelte abzubauen. Doch die verbliebenen Veteranen fühlen sich von Klitschko verraten und kritisieren, dass er Geschäftsleute und Millionäre in sein Team geholt hat. Ihr Zeltlager wollen die Kämpfer mit Gewalt verteidigen.
Die Männer mit den schwarzen Wollmasken und den Baseballschlägern sind wütend. «Weg mit der Bande», rufen sie und meinen damit den Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko und dessen Stadtverwaltung. Dann ziehen sich die Kämpfer in ihr Zeltlager hinter den Barrikaden zurück, stets bereit, ihre Festung zu verteidigen. «Die Stadt will uns mit Gewalt vertreiben, aber das lassen wir nicht zu», erklärt Iwan Ljukow, der seit Dezember auf dem Maidan lebt. Mit einer Axt in der rechten Hand bewacht er sein Zelt auf dem Unabhängigkeitsplatz.
Vitali Klitschko ist seit Mai Bürgermeister von Kiew. Seitdem beisst sich der Box-Champion im Ruhestand die Zähne an den verbliebenen Aktivisten aus. Die meisten Kämpfer haben den Maidan verlassen, doch einige harren immer noch auf dem Platz aus, auf dem im Winter Zehntausende gegen die Janukowitsch-Regierung protestierten. Nach seiner Wahl versprach Klitschko, das Stadtzentrum zu räumen. Mit Verhandlungen wollte er die Veteranen zum Abzug überreden. «Stattdessen verlangen die Leute Kühlschränke für ihre Zelte», sagt Klitschko. «Sieht so der Kampf für Demokratie aus?» Die Forderungen des Maidan seien doch erfüllt, ergänzt Klitschko.
Wohin mit den Maidan-Aktivisten?
Das sehen Aktivisten wie Ljukow anders. Die meisten Maidan-Kämpfer kommen aus der Westukraine, aus Orten wie Strij, Mukatschewo oder Uschgorod, wo es wenig Jobs gibt und kaum Perspektiven. In der Maidan-Revolution fand Ljukow ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch stellte sich für die neue Regierung unter Arseni Jazenjuk aber die Frage: Wohin mit den Maidan-Aktivisten? Viele kamen bei der Nationalgarde unter, die in der Ostukraine gegen die Separatisten kämpft. Maidan-Veteranen wie Ljukow hoffen ebenfalls auf Teilhabe an der Macht. Vielleicht auf einen Job in einem Staatsbetrieb oder in der Kiewer Stadtverwaltung.
«Viele sind jedoch enttäuscht, weil schon wieder Geschäftsleute und Klans an der Macht sind», sagt der Kiewer Politologe Wadim Karasew. Was den Aktivisten Ljukow besonders ärgert: Für Klitschkos Partei Udar sitzen mehrere Millionäre in der Stadtregierung. Klitschkos erster Stellvertreter, Igor Nikonow, war früher im Erdgashandel tätig und besitzt ein Vermögen von rund 100 Millionen US-Dollar. Klitschkos zweiter Stellvertreter, Pawel Rjabikin, ist Eigentümer eines Yachtclubs. Und Michail Radutskij, Klitschkos dritter Stellvertreter, betreibt das Kiewer Privatkrankenhaus «Boris».
Erinnerungen an alte Zeiten
Die Nomenklatura des Boxers erinnert an das korrupte System von Expräsident Janukowitsch. In dessen Partei der Regionen wurden einflussreiche Posten nur an enge Freunde und Geschäftspartner vergeben. Im Gegensatz zu anderen Politikern gilt Klitschko noch als Saubermann. „Sollte er den Maidan jedoch gewaltsam auflösen, würde er sein Vertrauen verspielen“, warnt Politologe Karasew. Der Wissenschaftler schließt nicht aus, dass sich die Maidan-Veteranen gegen die neue Stadtregierung erheben würden.
Dann würden sie sogar gegen ihre ehemaligen Kameraden kämpfen. Als am Donnerstag Stadtarbeiter das Maidan-Lager abreissen wollten, warfen Aktivisten Brandsätze und Steine auf Sicherheitstruppen, die den Einsatz bewachten. Diese Einheiten bestehen grösstenteils aus ehemaligen Maidan-Kämpfern.
Partisanenstimmung auf dem Platz
Auf dem Maidan würden sich Obdachlose und Kriminelle herumtreiben, begründete die Stadtverwaltung den Räumungseinsatz. Zudem habe die Polizei Pistolen, Granaten, Messer und Molotow-Cocktails in Zelten gefunden, erklärt Klitschko auf der Webseite seiner Partei Udar. Veteran Ljukow will sich nicht kriminalisieren lassen. Ein Aufnäher an seinem Tarnanzug weist ihn als Kämpfer der 4. Hundertschaft aus, eine der vielen Brigaden, in die sich die Maidan-Aktivisten aufteilen. «Bei uns ist es sicher», sagt der Mann mit der martialischen Kosakenfrisur.
Die meisten Zelte stehen noch auf dem Maidan, der Geruch von Schaschlik liegt in der Luft. Noch immer herrscht Partisanenstimmung am Kiewer Unabhängigkeitsplatz. Davon profitiert auch die Regierung. Neben einem Springbrunnen steht das grösste Zelt des Lagers, bewacht von Männern mit kurzgeschorenen Haaren und gut sitzenden Tarnanzügen. Es ist die Rekrutierungsstelle der ukrainischen Armee.