China und Japan streiten über eine Inselgruppe im Ostchinesischen Meer. Der Konflikt hat historische Gründe. Aber ihn zu verstehen, heißt noch nicht, ihn zu lösen.
Auslöser des jüngsten Konflikts zwischen Japan und China und teils gewalttätiger Proteste in China war Tokios Entscheidung, einige umstrittene, gasreiche Inseln im Ostchinesischen Meer zu «nationalisieren». Dahinter steht aber ein tieferer, vielfältigerer und fast schon institutionalisierter Disput, der noch auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht. Zufällig markiert der heutige Dienstag den Jahrestag eines berüchtigten Ereignisses, das auch die neuen Spannungen erklären hilft.
Der Mukden- oder Manschurei-Zwischenfall vom 18. September 1931 diente dem imperialistischen Japan als Vorwand für eine Invasion in Nord-China. Die Japaner beschuldigten chinesische Aufständische, einen Sprengstoffanschlag auf die in japanischem Besitz befindliche Südmanschurische Eisenbahn in der Nähe der Stadt Mukden (die heute Shenyang heißt) verübt zu haben. In Wahrheit hatte das japanische Militär die Explosion selbst ausgelöst. Diese Taktik kopierte Hitler später vor seinem Angriff auf Polen 1939. Binnen weniger Monate hatte Japan im Norden Chinas einen Marionettenstaat installiert.
Wütende Reaktionen
Es folgte eine lange, traurige und konfliktreiche Geschichte. Noch heute, Jahrzehnte nach der japanischen Niederlage 1945, klagen chinesische Kommentatoren, Tokio habe, anders als Deutschland, noch nicht zu einem angemessenen Umgang mit seinen Kriegstaten gefunden, geschweige denn echte Reue gezeigt. Immer wieder entbrennen Streitigkeiten über den Yasukuni-Schrein in Tokio, der laut dem Shinto-Glauben die Seelen oder Geister der Soldaten birgt, die im Kampf für den Kaiser gestorben sind. In China führt es jedes Mal zu wütenden Reaktionen, wenn hochrangige japanische Politiker dem Schrein einen Besuch abstatten.
Der sich verschärfende Disput über die in China als Diaoyu bekannten Senkaku-Inseln ist also nur jüngster Auswuchs einer langen Geschichte von Gewalt, Hass, Angst und Trauer, die vertrauensvolle und belastbare Beziehungen der beiden Länder verhindert. Die Wurzeln diese Konflikts zu kennen, mindert allerdings nicht sein Potenzial. Die Amerikaner, die sich immer noch als Vormacht im asiatisch-pazifischen Raum betrachten, werden zunehmend nervös.
Zurückhaltung angemahnt
US-Verteidigungsminister Leon Panetta, der Japan vor Kurzem besuchte, warnte eindringlich davor, «provozierendes Verhalten» beider Seiten könne zu Missdeutungen, Gewalt und gar offenen kriegerischen Auseinandersetzungen führen. «Es ist im Interesse aller …, dass Japan und China gute Beziehungen aufrecht erhalten und eine weitere Eskalation vermeiden», sagte Panetta. Damit nahm er auf, was schon US-Außenministerin Hillary Clinton gesagt hatte. Vor wenigen Wochen betonte sie, wie wichtig Zurückhaltung und Dialog seien im Verhältnis zwischen China und den verschiedenen südostasiatischen Staaten, mit denen das Land sich über territoriale Fragen streite.
Doch nicht nur die unglückliche chinesische Vergangenheit bildet die Kulisse für den Streit um die Senkaku-Inseln. In China hat mancher den Eindruck, das reuelose Japan sei Teil einer von den USA orchestrierten geostrategischen Verschwörung mit dem Ziel, die Entwicklung Chinas einzudämmen. Panetta behauptete zwar, nicht Partei zu ergreifen, bestätigte in Tokio aber, dass das Sicherheits- und Verteidigungsabkommen zwischen Japan und den USA auch die Senkaku-Inseln umfasse. Das bedeutet zumindest theoretisch, dass Washington Japan bei der Verteidigung von Territorium unterstützen müsste, das das Land nach chinesischer Lesart unrechtmäßig in Beschlag genommen hat.
Ungeheuerliche Provokation
Die Haltung der Obama-Administration zu Asien, ihre Sorge, ob sie sich und ihre Freunde gegen ein nuklear bewaffnetes Nordkorea (Chinas Verbündeten) verteidigen können, und ihr Streben nach Ausbau ihrer Sicherheits- und Handelsbeziehungen durch Allianzen mit Ländern wie Vietnam, den Philippinen und Indonesien – all diese Faktoren beeinflussen die Einschätzung Chinas mit Blick auf Japan – Washingtons Hauptverbündeten in der Region – und auf die Sicherheit ihres Landes. Als Clinton vor zwei Jahren erklärte, Bewegungsfreiheit im Südchinesischen Meer liege im «nationalen Interesse» der USA, war das für Peking eine ungeheuerliche Provokation. Ganz ähnlich ist es jetzt mit Tokios Entscheidung, die Senkakus zu erwerben, die China als «nicht hinnehmbar» empfindet.
Wenn solche Dinge in der Vergangenheit vorgefallen sind, folgten auf Tage des Zorns stets schrittweise Deeskalation und eine diplomatische Bereinigung der Lage. Dass die chinesische Regierung offenbar in der Lage ist, Straßenproteste ein- und wieder auszuschalten, ließ derartige Episoden oft etwas künstlich wirken. Nüchternes Eigeninteresse – das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern liegt bei 340 Milliarden Dollar – sowie die Gefahr, die Demonstranten auf der Straße könnten sich gegen ihre eigene Regierung wenden, gewinnen nach einer Zeit für gewöhnlich die Oberhand und lassen die Gemüter abkühlen.
Die Alternative war schlimmer
Dieses Mal könnte es sich anders verhalten, hauptsächlich aufgrund der politischen Veränderungen in Japan. Der Streit um die Senkaku ist schon seit Monaten kurz vorm Überkochen. Premierminister Yoshihiko Noda traf die Entscheidung, die Inseln zu kaufen, weil die Alternative die Lage noch stärker destabilisiert hätte: Der populäre Gegenvorschlag lautete, die Inseln nicht nur zu kaufen, sondern sie auch aktiv zu erschließen. Chinas Reaktion, die Entfesselung von Massenprotesten, die Entsendung von Schiffen und die Drohung mit Handelssanktionen, war scharf, aber nicht ungewöhnlich.
Unter dem Druck des nationalistischen Lagers hat Noda eine überraschend unflexible Position eingenommen: «Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Senkaku-Inseln zum japanischen Territorium gehören, sowohl nach internationalem Recht, als auch historisch betrachtet. Die Senkaku befinden sich de facto unter der Kontrolle unserer Nation, und darüber besteht mit keinem Land Uneinigkeit», sagte er im Juli der Zeitung Yomiuri Shimbun. Jetzt fordert er China auf, zu einem «ruhigen» Dialog zurückzukehren, ohne dabei auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen.
«Die Konfrontation zwischen Japan und China …. hat sich in einem wirklich gefährlichen Maße zugespitzt», schrieb der frühere US-Diplomat Stephen Harner in Forbes. «Objektiv betrachtet muss man sagen, dass Japan am meisten dafür getan hat, um die Spannungen anzuheizen. Eine weitere Eskalation kann weder im Interesse der einen noch der anderen Seite liegen. Während man Nodas Führung in innenpolitischen Angelegenheiten grundsätzlich loben muss, lässt er sich in Bezug auf China bei diesem Thema von Interessen beeinflussen, die Japan in eine Falle führen könnten.»
© Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zilla Hoffmann, Holger Hutt