Innert drei Jahren will die UNO für fast eine halbe Million besonders verletzliche syrische Flüchtlinge eine neue Heimat in Drittländern finden. Am Mittwochabend rief die Organisation in Genf deshalb die internationale Gemeinschaft zur Solidarität auf. Dem Aufruf folgen wollten nur wenige Staaten.
Insgesamt 480’000 syrische Flüchtlinge, die sich zurzeit in Nachbarstaaten befinden, will die UNO bis Ende 2018 in andern Ländern ansiedeln. An einer internationalen Konferenz in Genf rief UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon die Staaten dazu auf, syrische Flüchtlinge aufzunehmen.
Es geht dabei um besonders verletzliche Menschen. Um solche, die etwa medizinische Behandlung benötigen. Und es geht um erleichterte Familienzusammenführung oder um Hochschulstipendien. Die Krise der syrischen Flüchtlinge erfordere eine exponentielle Zunahme der weltweiten Solidarität, erklärte Ban.
Doch nur wenige Staaten folgten am Mittwoch dem Aufruf der UNO. Die Zahl der zusätzlich zugesagten Aufnahmeplätze erhöhte sich bis am Abend lediglich um 6000 auf 185’000. Die Konferenz war allerdings erst ein Auftakt. Konkrete Zusagen erwartet das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) bis zum Flüchtlingsgipfel der UNO im September in New York.
Überforderte Nachbarstaaten
UNO-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi wies darauf hin, dass die Lage der syrischen Flüchtlinge in den Nachbarländern zusehends schwieriger ist. Laut einer Weltbankstudie lebten 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge dort unter der Armutsgrenze, sagte er. Syriens Nachbarländer haben gemäss Ban Ki-moon eine «aussergewöhnliche Gastfreundschaft» gezeigt.
Die Türkei nahm bisher über 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien auf, der Libanon über eine Million, Jordanien 640’000, Irak 250’000 und Ägypten 120’000. Im Libanon, der nur vier Millionen Einwohner hat, ist heute eine von drei Personen ein Flüchtling. Wie der libanesische Minister für soziale Angelegenheiten, Rachid Derbas, sagte, gebe es Ortschaften mit 30’000 Einwohnern, die 80’000 Flüchtlinge aufgenommen hätten.
Syriens Nachbarländer sind überlastet, insbesondere auch Spitäler und Schulen. Von 750’000 syrischen Kindern in der Türkei können derzeit fast 400’000 keine Schule besuchen. Es fehlt an Klassenzimmern und Lehrern.
Wo bleibt die Hilfe der Reichen?
Reiche Länder haben bisher nur wenige syrische Flüchtlinge im Rahmen der Neuansiedlung aufgenommen. 67’000 waren es nach Angaben der britischen Hilfsorganisation Oxfam seit 2013, gerade mal 1,4 Prozent der 4,8 Millionen Menschen, die in die Nachbarländer geflohen sind. Nur Kanada, Deutschland und Norwegen hätten grosszügig Flüchtlinge für einen permanenten Aufenthalt aufgenommen. Die Schweiz, die an der Konferenz durch Mario Gattiker, dem Staatssekretär für Migration, vertreten war, sagte keine neuen Aufnahmen zu.
Laut dem stellvertretenden türkischen Aussenminister, Ali Naci Koru, konnten sich 2015 lediglich 1140 Syrer aus der Türkei über das UNHCR in einem Drittland niederlassen. Im aktuellen Jahr seien es bislang 206 Personen. EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos sagte, 4500 Flüchtlinge aus Syriens Nachbarländern seien bisher in elf EU-Ländern angesiedelt worden. Beschlossen worden war im letzten Juli die Niederlassung von 22’500 Menschen.
«Kollaps der internationalen Solidarität»
Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass Flüchtlinge, die ohne offizielle Erlaubnis nach Griechenland übergesetzt sind, ab kommender Woche in die Türkei zurückgebracht werden. Mit Blick auf dieses Abkommen sagte Filippo Grandi: «Wir können nicht auf eine globale Flüchtlingskrise reagieren, indem wir die Tore schliessen und Sperrzäune bauen.» Das UNHCR hatte bereits kritisiert, dass die Registrierungslager in Griechenland infolge des Abkommens zu Haftzentren geworden seien, da die Flüchtlinge sie nicht verlassen dürften.
Über das Resultat der Konferenz zeigten sich drei Hilfsorganisation ausgesprochen enttäuscht, namentlich Oxfam, Save the Children und Norwegian Refugee Council. Die Regierungen hätten einen schockierenden Mangel an politischer und moralischer Führung gezeigt. «Europa schuf die Flüchtlingskonvention (1951), als unsere Vorfahren durch den Krieg vertrieben waren. Heute besteht die Gefahr, dass Europa diese Konvention zu Grabe trägt», erklärte Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegian Refugee Council.
Der frühere Chef des UNO-Koordinationsbüros für humanitäre Hilfe (OCHA) leitet heute die humanitäre Taskforce im Rahmen der syrischen Friedensverhandlungen. Er sprach von einem Kollaps der internationalen Solidarität. Europäische und andere Politiker zögen es vor, Grenzen zu versiegeln und Freiluft-Gefängnisse zu bauen, anstatt ihrer Pflicht nachzukommen: Flüchtlinge schützen und für sichere Fluchtwege für Asylsuchende sorgen.