In Basel-Stadt leben gemäss den neuesten Zahlen des Statistischen Amtes 11’592 Sozialhilfebezüger. S.A. ist einer davon. Dem 46-Jährigen fehlte früher nichts im Leben: Er hatte eine schmucke Wohnung und eine eigene Firma – dann wurde er obdachlos. Dies ist seine Geschichte.
430 – wenn S.A. diese Zahl erwähnt, verspannt sich sein ganzes Gesicht. 430 Tage lebte er auf der Strasse, und das hat Spuren bei ihm hinterlassen. Noch immer wacht er nachts schweissgebadet auf, wenn er davon träumt. «Ich war einsam in dieser Zeit», sagt er.
Wie nahe Aufstieg und Niedergang beieinander liegen, weiss der 46-Jährige nur zu gut. Es ist noch keine acht Jahre her, dass er ein «geregeltes» Leben geführt hatte und sich keine Gedanken über Geld machen musste: S.A. hatte eine schmucke Wohnung mitten in der Innenstadt, fuhr ein teures Auto, hatte eine eigene Firma mit 35 Angestellten. «Ich führte ein gutes Leben. Ich war ein respektabler Bürger und hatte ein Geschäft mit namhaften Kunden.» Seine Auftraggeber waren unter anderem der Kanton und die Roche.
Dann kam der Bruch, und sein Leben geriet aus der Bahn. Weil seine Ex-Freundin ihn ungerechtfertigt anzeigte – unter anderem wegen Postraubs, Urkundenfälschung und acht weiteren Delikten –, nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ihn auf. Die Konsequenzen in Kurzfassung: S.A. verlor die Lizenz für die Firma, seine Angestellten musste er entlassen, er machte Schulden in Millionenhöhe. Erzählt S.A. von dieser Zeit, macht sich Groll bei ihm breit. «Mir ist Unrecht widerfahren.»
S.A. lebt heute von 1700 Franken Sozialhilfegeld.
Nahrung in Schrebergärten
Im Januar 2014 wurde die Wohnung von S.A. zwangsgeräumt. «Auf einmal war ich nichts mehr wert und wurde überall mit Verachtung gestraft. Ich war total am Anschlag – auch gesundheitlich.»
«Ich habe den Kontakt zu meiner Familie und zu meinen Freunden abgebrochen. Es war mir einfach nur peinlich.»
Von da an lebte S.A., heute einer der 11’592 Sozialhilfebezüger im Kanton Basel-Stadt, auf der Strasse. Ohne Gepäck, um nicht aufzufallen und um nicht als Ausgestossener behandelt zu werden. Betteln kam für ihn nicht infrage. Seiner Familie erzählte er aus Scham nichts über sein Schicksal. «Ich habe den Kontakt zu ihnen und zu meinen Freunden abgebrochen. Es war mir einfach nur peinlich.»
Am Anfang hielt er sich in Hauseingängen am Spalenberg auf, weil er nicht wusste, wohin er gehen sollte. Mit der Zeit trieb es ihn in den Wald. «Im Winter habe ich mir zum Schlafen ein Loch in den Boden gegraben, es mit Plastiksäcken ausgelegt und mich mit Zeitungspapier zudeckt.» Nahrung fand er oft in Schrebergärten. Stets war er alleine unterwegs, weil er niemandem traute. Menschen ging er aus dem Weg. «Man distanziert sich automatisch von Leuten, wenn man selber merkt, wie sehr man müffelt. Denn es ist widerlich.»
Halt fand er in dieser Zeit einzig beim «Schwarzen Peter». Immer wieder sei er im Winter beim Verein für Gassenarbeit an der Elsässerstrasse aufgetaucht – psychisch und physisch am Ende. Der Verein habe ihn aufgebaut und ihm Essen gegeben.
«Die Menschen auf der Strasse sind loyal. Wen man etwas hat, teilt man auch.»
Während S.A. im Unternehmen Mitte von seiner Zeit auf der Strasse berichtet, grüsst er immer wieder Menschen, die vorbeilaufen. «Die kenne ich alle von der Strasse. Denen sieht man nicht an, dass sie obdachlos sind. Es gibt aber viele, die kapituliert haben und viel Alkohol trinken oder Drogen nehmen.» Das sei für ihn nie infrage gekommen. Ein klarer Verstand sei ihm wichtig, sagt er.
Die Zeit auf der Strasse beschreibt S.A. als «hart», sie habe ihn aber sozialer gemacht. «Die Menschen auf der Strasse sind loyal. Wenn man etwas hat, teilt man auch.» Immer wieder versuchte S.A. während dieser Zeit, eine Wohnung zu finden. Über 1000 Absagen habe er bekommen. «Man sagte mir mehrmals, dass Gammler unwillkommen seien. Es ist extrem irritierend, wie man als Sozialhilfebezüger behandelt wird.»
Stiftung half weiter
Im März 2015 war S.A. so verzweifelt, dass er für einmal seine Prinzipien über Bord warf: Er fragte bei einem ehemaligen Kunden von ihm – einer namhaften Stiftung in Basel – nach einer freien Wohnung. «Das Kundensegment war für mich immer tabu, da ich die Hoffnung hatte, irgendwann wieder für sie arbeiten zu können. Ich konnte aber nicht mehr anders.» S.A. hatte Glück: Die Stiftung stellte ihm eine Wohnung für rund 900 Franken zur Verfügung. Seit April 2015 hat er wieder ein Dach über dem Kopf. Er sei sehr dankbar dafür – auch, weil er das Vertrauen in die Menschen schon verloren hatte.
Heute lebt S.A. von 1700 Franken Sozialhilfe. Zu wenig, um wieder ein geordnetes Leben führen zu können. Denn noch immer hat er Schulden offen, die er abzahlen muss. Kommt es hart, hat er im Monat nur 60 Franken zum Leben. «Oft bin ich mehrere Tage in meiner Wohnung und habe nichts zu essen. Aber ich habe wieder ein Dach über dem Kopf – und das Schlimmste hinter mir.»