Im Sicherheitsrat der UNO vereitelt Russland mit seinem Veto-Reflex jegliche Resolution zum Krieg in Syrien. Dabei besteht die Forderung, das Vetorecht bei Massnahmen gegen Kriegsverbrechen auszusetzen. Doch das braucht Zeit – Zeit, die der Zivilbevölkerung in den Konfliktgebieten fehlt.
Als «Zeitverschwendung» bezeichnete Witali Tschurkin, der russische UNO-Botschafter und derzeitige Vorsitzende des Sicherheitsrats, die Beratungen über Syrien und speziell über das heftig umkämpfte Aleppo. Demnach müsste darüber zu schreiben so etwas wie Platzverschwendung sein. Das scheinen zumindest die Medien zu glauben, denn sie brachten dazu entweder bloss kleinste oder gar keine Notizen.
Derweil verschwenden russische Kampfflugzeuge überhaupt keine Zeit und bombardieren zusammen mit Assads Flugzeugen fleissig die Zivilbevölkerung und die wenigen übriggebliebenen Spitäler. Das mediale Hauptproblem besteht darin, dass Beklagenswertes sich wiederholt und dass Berichte darüber im engeren Sinn zwar Nachrichten, aber keine «News» sind.
Das Online-Portal des «Sterns» hat in dieser Situation aus einer Mischung von Betroffenheit (die man der Zeitschrift nicht absprechen darf) und anhaltender Publizitätsgeilheit (die zum Metier gehört) vermeintlich schweigend geredet, indem es erklärte, am gegebenen Tag (dem 7. Oktober) nichts zu schreiben und nur Bilder zu zeigen. Prompt berichteten andere Medien über die angebliche «Sprachlosigkeit» des Magazins.
Russischer Veto-Reflex
Russland hat am gleichen 7. Oktober zum fünften Mal in fünf Jahren eine Syrien-Resolution mit seinem Veto blockiert. Sie war von Frankreich und Spanien eingebracht worden und forderte für Aleppo eine sofortige Waffenruhe und ein Verbot von Luftangriffen. Der französische Aussenminister Jean-Marc Ayrault begründete die Forderung damit, dass die Bombardierung der einstigen syrischen Wirtschaftsmetropole Zivilisten töte und Krankenhäuser und Schulen zerstöre.
Neben Russland war auch Venezuela im 15-köpfigen Sicherheitsrat gegen die Resolution. Bemerkenswerterweise enthielten sich China (das zuvor stets an Russlands Seite stand) und Angola der Stimme; die elf anderen Mitglieder, darunter natürlich die USA und Grossbritannien, unterstützten Frankreichs Entwurf.
Die russische Schutzmacht nutzt diesen Konflikt vor allem dazu, ihre strategische Position in der Region auszubauen.
Wir erinnern uns (oder vielleicht auch nicht), dass im vergangenen August ein UNO-Expertenausschuss seine Resultate aus der Abklärung der Chemiewaffeneinsätze in Syrien vorgelegt hat. Drei von neun Fällen konnte er eindeutig dem Assad-Regime zuordnen (bei den anderen sechs waren die Verantwortlichen nicht zu eruieren). Frankreich und Grossbritannien verlangten eine «schnelle und entschiedene» Antwort des Sicherheitsrats. Dazu kam es nicht, weil man wusste, dass Russland dies verhindern würde.
Bereits früher tröstete man sich damit, dass schon allein die formale Feststellung von Verbrechen in zweierlei Hinsicht wichtig sei: Sie könnte sich sogleich mässigend auf die aktuelle Kriegsführung auswirken; und sie bilde wichtige Unterlagen, wenn nach dem Krieg die Verantwortlichen wegen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen würden. Das verbrecherische Assad-Regime, das bereits in «friedlichen Zeiten» Tausende von Menschen in seinen Gefängnissen umgebracht hat, wird das nicht beeindrucken. Ebenso wenig die russische Schutzmacht, die diesen Konflikt vor allem dazu nutzt, ihre strategische Position in der Region auszubauen.
Alles braucht Zeit, aber genau die fehlt
Wenige Tage vor dem russischen Veto hat der aus Jordanien stammende UNO-Menschenrechtskommissar Seid Raad al-Hussein am 4. Oktober eine bereits ältere Forderung erneuert, dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats auf ihr Vetorecht verzichten sollten, wenn es um Massnahmen zur Vermeidung oder Beendigung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord gehe. Unklar ist, wie die Tatbestände festgestellt werden müssten. Für die Abklärung wäre wahrscheinlich der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zuständig, und dieser – vom Sicherheitsrat beauftragt oder wenigstens ermächtigt – müsste die Beurteilung abgeben und würde dafür viel Zeit brauchen, während die Gräuel ihren Lauf nehmen.
Sicher ist es, obwohl man darin seit etwa einem Jahrhundert sozusagen Übung hat, nicht einfach zu bestimmen, wann Krieg ein Kriegsverbrechen ist. Eine einfache Definition wäre freilich die Tötung von nichtkombattanten Menschen, also der Zivilbevölkerung. Andererseits ist es gang und gäbe, Kollateralschäden dieser Art mit sehr leichtem Bedauern zu produzieren – immer mit dem Hinweis auf höhere Notwendigkeit.
Bevorzugte Bombenziele sind stets die Städte, denn aufgrund der Siedlungsdichte ist die Zerstörungswirkung dort maximal.
Heute beruhigt man die Öffentlichkeit mit Verweis darauf, dass man «chirurgische Eingriffe» vornehme. Im Fall von Aleppo ist die Bombardierung der Zivilbevölkerung, von Spitälern und Schulen, fester Bestandteil der Kriegsführung und kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass Kämpfer und Nichtkämpfer schwer auseinandergehalten werden können.
In Luftkriegen (auch diejenigen der amerikanischen Drohnen) gehören Zerstörungen, die als kriegsverbrecherisches Handeln zu taxieren sind, von Anfang an dazu. Darum wäre richtig – und dringend nötig – dass über Konfliktherden Flugverbotszonen eingerichtet würden, die allerdings auch irgendwie durchgesetzt werden müssten.
Dass sich das Problem nicht auf Syrien beschränkt, zeigt die Bombardierung Saanas in Jemen durch die saudische Luftwaffe mit amerikanischen F-16. Sie galt am vergangenen Samstag einer Trauerversammlung mit über 3000 Menschen und kostete Hunderte Menschen das Leben. Das waren nun «News», obwohl auch dieser Krieg schon über ein Jahr dauert. Bevorzugte Ziele sind stets die Städte, weil da wegen der Siedlungsdichte maximale Zerstörungswirkung erzielt werden kann.
Auch Kleine können einen Beitrag leisten
Die Forderung des UNO-Menschenrechtskommissars war und ist, wie gesagt, nicht neu. Sie war genau vor einem Jahr von Frankreich und von Mexiko schon einmal vorgebracht worden. Ihr hätte zusammen mit einer anderen Initiative gewissermassen zum 70. Geburtstag der UNO im Oktober 2015 Leben eingehaucht werden sollen. Die andere Aktion mit ähnlicher Zielsetzung trägt den Namen ACT wie Handeln, dies ein Akronym aus Accountability, Coherence, Transparency (Verantwortlichkeit, Zusammenhalt, Durchschaubarkeit).
Die eine Variante hatte damals die Unterstützung von bereits 75 Staaten (darunter logischerweise diejenige der Vetomacht Frankeich), die andere unterstützten 53 Staaten. Beide werden auch von der Schweiz unterstützt, letztere sogar mit der Übernahme der Koordination, und dies unter der Ägide Liechtensteins. Diese Kleinigkeiten seien genannt, weil das zeigt, was auch Kleine in der globalisierten Welt leisten können.
Das Privileg des Vetorechts war nicht dafür gedacht, dass die Grossen ihre Klientelstaaten vor berechtigten UNO-Massnahmen schützen können.
Diese Bemühungen haben Russland nicht von seinem Veto abgehalten. Die Promotoren der Anti-Veto-Bewegung gehen davon aus, dass durch die breite Abstützung der Aktion die Hemmschwelle bei den Vetomächten (also auch bei den USA, die sich als Schutzmacht Israels verstehen) etwas angehoben würde. Eine solche auf Einsicht beruhende Neuerung brauche aber Zeit und es gehöre auch die Einsicht dazu, dass jeder Einsatz des Vetos, welcher die Menschenrechte missachte, auf Dauer die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrats infrage stellten.
1945 wurde den Grossen ein Vetorecht eingeräumt, weil man zu Recht davon ausging, dass Beschlüsse gegen Grossmächte gar nicht durchsetzbar sind und darum auch nicht zustande kommen sollen. Nicht gedacht war dieses Privileg, um den Grossen zu gestatten, zur Erweiterung ihres Einflusses ihre Klientelstaaten vor berechtigten UNO-Massnahmen zu schützen.
Der Generalsekretär, ein machtloser Makler
Nun haben wir als Nachfolger des Südkoreaners Ban Ki Moon schon bald einen neuen UNO-Generalsekretär: den Portugiesen António Guterres. In den Probeabstimmungen ist er zwar fünfmal von Russland abgelehnt worden, weil dieses sich als Anwalt Osteuropas aufführen wollte. Inzwischen hat er die Unterstützung aller Vetomächte und muss noch von der Vollversammlung approbiert werden.
Der designierte Uno-Generalsekretär Antonio Guterres war zehn Jahre lang Hochkommissar für Flüchtlinge. (Bild: Reuters/Rafael Marchante)
Seine Ernennung hat zwei Unschönheiten: Guterres ist keine Frau und kommt nicht aus Osteuropa. Dass Guterres ein Mann ist, wurde mit dem bekannten Spruch aufgefangen: «Nobody is perfect.» Und dass es bisher keine Frau auf diesen Posten geschafft hat, ist in den Medien zwar thematisiert, bezüglich der jetzigen Ausmarchung aber nicht erklärt worden.
Der neue UN-Generalsekretär Guterres wird dafür sorgen müssen, dass die Zahl der Flüchtlinge zurückgeht, die aus existenzieller Not flüchten.
War Guterres einfach die mit Abstand beste Lösung? Unter den osteuropäischen Kandidaturen gab es zwei aussichtsreiche Bulgarinnen, doch haben die Osteuropäer es offenbar nicht verstanden, ihre Rivalitäten zu überwinden und eine gemeinsame Kandidatur zu lancieren. Insgesamt standen sechs Frauen zur Wahl, unter ihnen die Neuseeländerin Helen Clark, Direktorin des UNO-Entwicklungsprogramms (Unep). Sie hat sich früher für die weltweite Abschaffung aller Atomwaffen engagiert, was den USA nicht gefiel.
António Guterres, von 2005 bis 2015 UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, wird in diesem zur Zeit besonders wichtigen Bereich hohe Kompetenz und ebenso hohes Engagement attestiert – und entsprechend auch beste Eignung für das zentrale Amt des UNO-Generalsekretärs. Diesem Amt wird zwar einiges an Einfluss zugeschrieben, es ist aber auch das eines machtlosen Maklers.
Von der UNO kann man sagen, dass sie viele Baustellen hat. Eine Grossbaustelle ist und bleibt das Flüchtlingswesen. Zu Guterres Aufgaben wird es gehören, nicht einzig die gute Aufnahme von Flüchtlingen sicherzustellen, sondern mit seiner Diplomatie dafür zu sorgen, dass die Zahl der Flüchtlinge zurückgeht, die aus existenzieller Not fliehen – aus Syrien und aus anderen Regionen der Welt.