Besuch bei den gestrandeten Flüchtlingen auf dem Geister-Flughafen von Athen

Zehntausende Flüchtlinge und Migranten sitzen in Griechenland fest, seit die Balkanroute dicht ist. Doch die Athener Regierung scheint bisher keinen Plan zu haben, was aus den Menschen werden soll. Die Stimmung in den Flüchtlingslagern wird immer gereizter.

Migrants line up to receive personal hygiene goods distributed by the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), outside the main building of the disused Hellenikon airport where stranded refugees and migrants, most of them Afghans, are temporarily accommodated in Athens, Greece, May 3, 2016. REUTERS/Alkis Konstantinidis

(Bild: REUTERS/Alkis Konstantinidis)

Zehntausende Flüchtlinge und Migranten sitzen in Griechenland fest, seit die Balkanroute dicht ist. Doch die Athener Regierung scheint bisher keinen Plan zu haben, was aus den Menschen werden soll. Die Stimmung in den Flüchtlingslagern wird immer gereizter.

Nasir starrt auf sein Smartphone, immer wieder. «No message», sagt er enttäuscht, keine Nachricht. Der junge Afghane wartet auf eine SMS von seinem Cousin Habib aus Deutschland. «Er hat es im Februar nach dort geschafft, als die Grenzen gerade noch offen waren», erzählt der 24-Jährige. «Jetzt ist er in der Nähe von Berlin», sagt Nasir und zeigt das Selfie, das ihm sein Cousin aus Deutschland aufs Handy geschickt hat. Es zeigt einen lachenden jungen Mann vor dem Brandenburger Tor. Inzwischen ist die Balkanroute dicht. «Habib hat versprochen, mich hier rauszuholen, aus dieser Hölle», sagt Nasir.

Die Hölle, das ist der alte Athener Flughafen Ellinikon. Seit 15 Jahren ist hier kein Flieger mehr gelandet. Eigentlich sollten die Gebäude längst abgerissen sein. Dass sie noch stehen, ist dem chronischen politischen Stillstand in Griechenland geschuldet – und erweist sich jetzt als Glücksfall für die Flüchtlinge, die hier untergekommen sind. Im dämmrigen Licht der riesigen Abflughalle reihen sich die bunten Kuppeln Hunderter kleiner Campingzelte aneinander.

Über 3500 Menschen hausen in dem alten Flughafenterminal. Sie dösen in den Zelten oder lagern auf Wolldecken, die sie auf dem Betonboden ausgebreitet haben. Ein kleines Mädchen hat vor einem Zelt seine Spielsachen ausgebreitet: Stofftiere, eine Puppe, ein kleines rotes Plastikdreirad.



Children play next to an old statue, outside the main building of the disused Hellenikon Airport where stranded refugees and migrants, most of them Afghans, are temporarily accommodated in Athens, Greece, April 17, 2016. REUTERS/Michalis Karagiannis

Hoch und runter – die Gangway dient als Spielplatz. Der alte Zaun als Wäscheständer. (Bild: REUTERS/Michalis Karagiannis)

Fast 55’000 Flüchtlinge und Migranten sind in Griechenland gestrandet, seit die Balkanländer ihre Grenzen geschlossen haben. Noch hoffen viele, dass sich irgendwann für sie ein Weg nach Europa öffnet. Wie die meisten, sitzt Nasir jetzt schon seit zwei Monaten hier fest. «Das schlimmste ist die Untätigkeit, die Ungewissheit», sagt der junge Mann. Er will nicht, dass Ellinikon für ihn zur Endstation wird. «Es muss doch einen Weg geben, hier rauszukommen», sagt er und checkt wieder sein Handy – no message.

Wie fast alle hier in der Halle, kommt auch die 19-jährige Merwe aus Afghanistan. Mit ihrer Mutter sitzt sie vor einem der Zelte. Nebenan lagert ihr Cousin mit seinen beiden Töchtern. «Fast 10’000 Dollar haben wir fünf den Schleusern bezahlt», erzählt die junge Frau. Über den Iran brachten die Schmuggler sie in die Türkei und dann auf einem Boot über die Ägäis zu einer griechischen Insel, deren Namen Merwe vergessen hat. Nun sitzen sie hier, in diesem Elendslager. Auch Merwe und ihre Familie haben Verwandte in Deutschland. «Die meisten hier wollen nach Deutschland», erzählt das Mädchen. «Irgendwie wird es schon gehen – es muss», sagt Merwe trotzig.



A migrant sits at the premises of the disused Hellenikon airport where stranded refugees and migrants, most of them Afghans, are temporarily accommodated in Athens, Greece, May 3, 2016. REUTERS/Alkis Konstantinidis

Platz hat es eigentlich genug, was fehlt ist Infrastruktur: 3500 Menschen teilen sich 40 Toiletten. (Bild: REUTERS/Alkis Konstantinidis)

Draussen unterhält eine Gruppe von Amateur-Clowns eine Schar Flüchtlingskinder mit Spässen und Luftballonen. Die Clowns treten sonst in Kinderkliniken auf. Jetzt sind sie aus ihrer Heimat Dänemark auf eigene Kosten nach Griechenland gefahren, um Flüchtlingskinder zu bespassen. «Wenn Du die Freude in den Augen der Kinder siehst, geht Dir das Herz auf», sagt Karl. Der 56-jährige Däne mit der roten Pappnase ist im Zivilberuf Ingenieur.

Aber das fröhliche Gejohle ist nur eine trügerische Momentaufnahme. So froh die Menschen auch anfangs waren, wenigstens ein festes Dach über dem Kopf in Ellinikon zu haben, so gereizter wird die Stimmung im Lager von Tag zu Tag. «Aus den Duschen kommt nur kaltes Wasser, das ist ein Problem für die vielen Babys und ihre Mütter», klagt Merwe. «Wir bekommen zwar Essen, aber es ist schlecht und nicht genug.» Hilfsorganisationen bestätigen: Viele der fast 1000 Kinder in Ellinikon sind unterernährt. 3500 Menschen müssen sich 40 Toiletten teilen.

Viele der fast 1000 Kinder in Ellinikon sind unterernährt.

Kürzlich schickten fünf Bürgermeister angrenzender Gemeinden einen Brandbrief an Premierminister Alexis Tsipras: «Die Situation ist ausser Kontrolle und stellt ein enormes Risiko für die öffentliche Gesundheit dar», hiess es in dem Schreiben. Die Flüchtlinge im Lager sind sich selbst überlassen, es gibt keinerlei Organisation. Der Staat glänzt durch Abwesenheit, bis auf zwei Polizisten, die draussen in ihrem Streifenwagen sitzen. Nach Wochen hilflosen Wartens liegen bei vielen Migranten die Nerven blank. Immer häufiger kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.

Auch der Hafen von Piräus, in dem 2000 Migranten und Flüchtlinge campieren, und das informelle Flüchtlingslager bei Idomeni an der mazedonischen Grenze mit seinen fast 10’000 Menschen, sind Brennpunkte, an denen es, meist aus nichtigem Anlass, fast jede Nacht zu Schlägereien und Messerstechereien kommt. Die Bewohner des Dorfes Idomeni beschwerten sich diese Woche in einem Brief an die Regierung über mangelnden Schutz durch die Polizei: Täglich komme es zu Vandalismus und Diebstählen in dem Dorf.

Der für die Migrationspolitik zuständige Vize-Innenminister Giannis Mouzalas verspricht zwar, man werde Unterbringungsmöglichkeiten für weitere 20’000 Menschen schaffen. Das «Lager der Schande», wie Idomeni von griechischen Medien genannt wird, werde aufgelöst, sagt Mouzalas. Aber bisher folgten nur wenige Migranten den Appellen der Behörden, in organisierte Unterkünfte umzuziehen.

«Wird es Schulen für die Flüchtlingskinder geben? Werden die Menschen in geheizten Unterkünften leben, wenn der Winter kommt?» 

In Idomeni entwickeln sich bereits dauerhafte Infrastrukturen. Die Menschen zimmern die ersten Baracken. Es gibt Teehäuser und Geschäfte, sogar eine provisorische Schule. «Hier entsteht Griechenlands erste Favela», fürchtet Nikitas Kanakis. Der 49-jährige Zahnarzt ist Präsident der griechischen Sektion der Hilfsorganisation Ärzte der Welt. Einen Plan der Regierung, was mit den Menschen geschehen soll, vermag Kanakis bisher nicht zu erkennen: «Die Politiker wursteln sich durch, von einem Tag zum nächsten», klagt Kanakis.

«Sie denken allenfalls an die nächste Woche und geben sich der Illusion hin, dass sich das Flüchtlingsproblem auf eine wundersame Weise von selbst löst.» Dabei müsse man sich jetzt Gedanken machen, was im September passieren soll: «Wird es Schulen für die Flüchtlingskinder geben? Werden die Menschen in geheizten und trockenen Unterkünften leben, wenn der Winter kommt?»

Aussichten auf einen Job dürften die wenigsten haben, angesichts einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent. Umso wichtiger wäre es, ihnen eine Perspektive zu geben und Integrationskonzepte zu entwickeln. «Aber das Wort Integration kommt in der griechischen Flüchtlingsdebatte bisher überhaupt nicht vor», klagt Kanakis. Er rechnet damit, dass die meisten Menschen «mindestens zwei, drei Jahre» in Griechenland bleiben werden, wahrscheinlich sogar länger. «Doch man hat den Eindruck, dass unsere Politiker diesen Gedanken beharrlich verdrängen», sagt der Arzt.

«Alpha, Beta, Gamma, Delta…» – Tamim lernt die Sprache, er wird sie brauchen.

Auch der 20-jährige Tamim hat sich damit abgefunden, dass er wohl noch lange in Griechenland bleiben wird: «Ich glaube nicht, dass sich die Grenzen bald wieder öffnen», sagt der junge Afghane. Tamim lebt seit zwei Monaten im Flüchtlingslager Schisto westlich Athens. Die Lebensbedingungen in dem ehemaligen Armeecamp sind deutlich besser als in Ellinikon oder Idomeni.

«Hier leben knapp 2000 Menschen», erläutert Major Vassilios Thanos bei einem Rundgang durch das Lager, das die Streitkräfte im Februar in nur elf Tagen für die Aufnahme der Flüchtlinge hergerichtet haben. Die Menschen leben in Zelten. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag, ausreichend Duschen und Toiletten, einen Kinderspielplatz mit Schaukeln.

Ursprünglich war auch dieses Camp als Durchgangslager ausgelegt. Auf den nächsten Winter sei man hier bisher nicht vorbereitet, räumt Major Thanos ein. Immerhin gibt es eine provisorische Schule. Ziad, selbst ein Flüchtling, betätigt sich als Lehrer.

Der afghanische Universitätsprofessor, der fünf Sprachen beherrscht, nimmt mit seinen Schülern das griechische Alphabet durch: «Alpha, Beta, Gamma, Delta…» Auch Tamim drückt die Schulbank. «Eher Jahre als Monate» werde er wohl in Griechenland festsitzen, ahnt der junge Mann. Da können Sprachkenntnisse nicht schaden. «Ich gebe die Hoffnung nicht auf», sagt Tamim, «selbst wenn ich hier Jahre warten muss.»

8400 Flüchtlinge sitzen in einer Art Hochsicherheitsgefängnis.

Wenige bringen so viel Geduld auf. Prekär ist vor allem die Lage der rund 8400 Flüchtlinge und Migranten, die auf den ostägäischen Inseln festsitzen. Die meisten von ihnen müssen damit rechnen, in die Türkei zurückgeschickt zu werden, wenn der EU-Flüchtlingspakt mit Ankara denn jemals funktionieren sollte. Die Lager, in denen die Menschen auf ein ungewisses Schicksal warten, gleichen eher Hochsicherheitsgefängnissen, sind von hohen Stahlzäunen und messerscharfen Stacheldrahtverhauen umgeben. Trotzdem gelingt immer mal wieder einigen der Ausbruch.

Wie jenen sechs Migranten, die Anfang der Woche versuchten, von Chios zurück in die Türkei zu schwimmen – offenbar, um von dort einen anderen Weg nach Europa zu suchen. Die Männer, fünf Marokkaner und ein Algerier, wurden völlig erschöpft von der Küstenwache aus dem Meer gefischt. «Die Strömung hatte sie bereits weit abgetrieben», berichtete einer der Retter. «Die 15 Kilometer zur türkischen Küste hätten sie niemals geschafft.»

Nächster Artikel