Volkswirtschafterin Monika Engler stellte am Basel Economic Forum die Metrobasel-Studie «Aging Workforce» vor – anschliessend stellte sie sich den Fragen der TagesWoche.
Frau Engler, an der BEF-Studie «Aging Workforce: Das Potenzial erkennen und mobilisieren» haben 2837 Mitarbeitende der SBB und der Novartis teilgenommen – sowohl Vorgesetzte als auch Mitarbeitende. Gab es da auffällige Differenzen zum Thema Alter und Arbeitswelt bei den beiden Gruppen?
Grundsätzlich gehen beide Gruppen in die gleiche Richtung, aber man sieht Wahrnehmungsunterschiede. Wenn es um das Thema Förderung und Weiterbildung geht, dann gehen die Mitarbeiter davon aus, dass weniger gefördert wird, dass weniger Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bestehen. Dieses Problembewusstsein ist bei Führungskräften weniger vorhanden: Sie haben das Gefühl, alle Mitarbeiter würden gleich ermutigt, sich weiterzubilden und weiterzuentwickeln.
Und sonst?
Man sieht auch Unterschiede in der Vorstellung, wie das Potenzial älterer Mitarbeitender ausgeschöpft werden kann. Die Studie zeigt, dass der Arbeitsinhalt für Mitarbeitende zentral ist: Die Arbeit muss interessant sein, sie muss zu den Fähigkeiten passen – dann sind die Angestellten bereit, länger im Betrieb zu bleiben. Die Vorgesetzten zeigen da weniger Bereitschaft, offen auf Mitarbeitende zuzukommen, mit Aufgabenstellungen und Prozessen, die diesen Bedürfnissen entsprechen. Sie setzen eher auf Massnahmen wie Altersdurchmischung und hoffen, dass sich das Potenzial selber ausschöpft.
Die Studie zeigt auch, dass der monetäre Aspekt angeblich für viele nicht zentral ist für den Entscheid, weiterzuarbeiten oder nicht. Hat Sie das überrascht?
Nein, da bestätigt unsere Studie einfach schon das, was andere auch schon gezeigt haben. Und das gilt einfach für die Schweiz: Wir haben ein relativ hohes Vorsorgeniveau, und es gibt Angestellte, die in der komfortablen Lage sind, mit 60 in Rente gehen zu können, die die Freiheit haben, zwischen Einkommen und Freizeit abwägen zu können.
Laut Ihrer Studie ist die «Eigenverantwortung» der Mitarbeitenden von zentraler Bedeutung. Das ist ein in der Politik gern benutztes Wort. Was genau verstehen Sie darunter?
Das Wort heisst in der Politik wohl einfach, man müsse alles selber anpacken und sei selbst schuld und so weiter, das meinen wir nicht genau so. Was wir zeigen wollen, ist, dass man den Mitarbeitenden aufzeigen kann, dass man den aktuellen Job verändern kann, dass man sich im aktuellen Job Optionen schaffen kann. Es ist durchaus möglich, sich zu bewegen, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so scheinen mag. Es gibt immer Möglichkeiten zu überlegen: Wie kann ich das anders machen? Was wäre auch noch eine interessante Aufgabe? Vielleicht ist es eher eine Bewusstmachung von Optionen.
Auch im Sinn eines Handlungsspielraums?
Ja. In dem Sinn, dass auch die Vorgesetzten sehen: Wenn man dem Einzelnen etwas mehr Raum lässt und eine interessante Aufgabe gibt oder ein Ziel setzt, ohne den Weg genau zu definieren, sodass sich der Angestellte freier bewegen kann, dann entspricht die Arbeit am Ende mehr einer Erfahrung, wie sie sich der Einzelne vorstellt. So ist die Eigeninitiative gemeint.
Beschränken sich diese Optionen nicht vor allem auf Hochqualifizierte? Je nach Unternehmenskultur kann es doch eher schlecht rauskommen, wenn Arbeitnehmende mit mehr Selbstverwirklichung beginnen?
Sie sprechen etwas an, das man nicht unterschätzen darf. Das Umfeld muss natürlich stimmen, berücksichtigt werden oder erst geschaffen werden und die Eigeninitiative der Mitarbeitenden als wertvolles Gut – für Mitarbeitende wie Unternehmung – honoriert werden. Genau darum geht es, dass man all das thematisiert. Die Zahlen sprechen für sich: Fast jede Firma findet einen Über-50-Jährigen, den sie eingestellt hat. Aber im Verhältnis geht es dann doch nicht auf, da sind die Älteren klar im Nachteil.
Wir haben es gehört: Schweden macht viele Vorgaben, was die Weiterbildung und Förderung von älteren Arbeitenden betrifft, bei einem teilliberalisierten Rentensystem. Die Folge: Hohe Beschäftigung bis in sehr hohes Alter trotz grosser Freiheit bei der Wahl des Pensionsalters. In der Schweiz gibt es wenige bis keine solche Vorgaben. Ein Problem?
Man sollte den Leuten die Angst nehmen vor dem Stellenverlust – dieses Gefühl, dass danach nichts mehr möglich ist. Das skandinavische Modell bietet eine sehr enge Betreuung, das dafür sorgt, dass die Leute wieder in den Arbeitsprozess hineinkommen, und gleichzeitig sind die Unternehmen bereit, ältere Angestellte aufzunehmen. Wenn es gelänge, schon nur die Optionen zu schaffen, dass die Leute spüren, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie sich im Alter neu orientieren, dann wären wir schon einen grossen Schritt weiter. Die Befreiung ist schon gross, wenn man weiss: Ich könnte die Stelle wechseln oder ich könnte reduzieren, wenn ich wollte.
Es gibt auch die Ansicht, dass es den Leuten einfach zu gut geht. Ginge es ihnen schlechter, kämen sie erst gar nicht auf solche Ideen und müssten einfach so lange wie möglich arbeiten, um zu überleben.
Dann wären wir beim Modell Estland mit einem komplett liberalisierten Arbeits- und Rentensystem. Ich glaube, es ist ein Glück, dass wir nicht in dieser Situation sind. Deshalb sind auch die Massnahmen und Konzepte, die es jetzt braucht, sehr viel komplexer. Natürlich spielen die monetären Aspekte auch bei uns. Und was in der Altersvorsorgereform angedacht ist – etwa dass man über das AHV-Alter hinaus arbeiten kann, und das mit positiver finanzieller Wirkung – das wird Auswirkungen haben. Aber es gibt keinen Grund für radikale Schritte.
Die demografische Entwicklung zeigt: Das Problem wird sich rasant verschärfen.
Absolut. Es ist ein Mentalitätswandel, der sich einstellen muss. Schon jüngere Menschen müssen beginnen, über diese Fragen nachzudenken, was mögliche Entwicklungspfade sind – damit sie nicht mit 60 schon fix und fertig sind. Das können sie nicht mit 55 entscheiden, das muss man sorgfältiger planen, die Weichen frühzeitig stellen.
Auch das ist ein Stress-Faktor: Man kann sich doch nicht ständig den Kopf darüber zerbrechen, was man mit 70 arbeiten möchte?
Ja, vielleicht… aber der Austausch, der soll dazu führen, dass Unternehmungen konkrete Massnahmen ergreifen, erste Schritte ausführen. Das wird mit der Zeit dazu führen, dass Vorbilder entstehen. Dann wird all das zur Normalität: Teilausstiege, Leute, die einfach weiterarbeiten, altersgemischte Teams, die total innovativ sind: Das kann die Situation, denke ich, verändern.
Wo müsste man den jetzt konkret anfangen?
Ein Patentrezept haben wir natürlich auch nicht. Aber die Interviews zeigen auch, dass Bewerbungen von Leuten über 50 teilweise nicht einmal angeschaut werden in gewissen Bereichen. Das muss sich natürlich ändern, da sprechen wir noch von sehr kleinen Schritten. Aber es tut sich nun auch einiges in vielen Unternehmen.
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Mehr zum Thema: Warum alte Schweden lieber arbeiten als Schweizer – und warum das wohl so bleiben wird
Die Studie «Aging Workforce» (70 Seiten) kann unter office@metrobasel.org bestellt werden. Kosten: 58 Franken (für Metrobasel-Mitglieder: 38 Franken).