Die Schweiz befände sich in einer Sinnkrise und auch die EU habe schon bessere Tage gesehen, diagnostizierte der ehemalige EU-Vizepräsident Günter Verheugen am Dienstagabend. Und warb für einen vertieften Dialog mit Europa.
Günter Verheugen schweigt nicht gern. Unter anderem als ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission schaltet sich der 71-Jährige regelmässig in Debatten ein. So attackierte er unlängst Angela Merkel in der Ukraine-Frage und gastiert auch schon mal in der Schweiz und spricht über das Thema Zuwanderung. So referierte er letzten November in Zürich, am Dienstagabend sprach er nun in Basel.
Es war die Handelskammer beider Basel, die ihn als Referent an ihrer Generalversammlung aufgeboten hatte. Verheugen sprach vor mehreren Hundert Personen, die sich für die grossen Fragen interessierten. Da verfing auch der humorvolle Hinweis von Handelskammer-Direktor Franz Saladin nur wenig: Man beschäftige sich derzeit in Basel lieber mit Unterflurcontainern als mit der Lage der Wirtschaft.
So führte Handelskammer-Präsident Thomas Staehelin den Redner ein: Wie geht es weiter in der Europapolitik, eines der, so Staehelin, «drängendsten, vielleicht lästigsten Probleme» der Schweiz? Wie kann es – jenseits aller Wahlkampfpolemik – weitergehen mit der Beziehung zur EU?
Und so sprach also Günter Verheugen, einst enger Mitarbeiter des deutschen Aussenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP), später Bundestagsabgeordneter für die SPD, danach Vizepräsident der EU-Kommission und damit ein ausgewiesener Kenner der deutschen und europäischen Politik. Und ein überzeugter Europäer und Lobbyist dazu: Derzeit ist er als Berater tätig und beschäftigt sich unter anderem mit der Integration und Modernisierung der Ukraine.
Schweiz in der Sinnkrise
Die Schweiz befinde sich in einer Sinnkrise, kam Verheugen unumwunden zur Sache. Wie in viele anderen europäischen Ländern bestehe auch hierzulande ein Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit, man sei auf der Suche nach Identität, so seine Analyse. Hinzu komme, dass das Ansehen der Schweiz in den vergangen zehn Jahren durchaus gelitten habe.
Aber auch die EU befinde sich derzeit in «keinem besonders attraktiven Zustand». Grossbritannien droht mit Austritt, Europa kämpft mit nie dagewesenen Migrationsströmen, der Friedensnobelpreis, den das Staatenbündnis 2012 erhielt, ist fast vergessen. «Mehr Europa» werde von den Mitgliedern gegenwärtig «eher als Drohung denn als Verheissung» empfunden. Aus seiner Sicht keine Ablehnung der europäischen Idee, sondern «eine Skepsis gegenüber der Methode».
Im gesamten europäischen Raum macht er einen Mangel an Investitionsfreude aus. Problematisch sei in der EU nicht der Mangel an Geld, sondern die Zurückhaltung an Investitionen. «Eine Investition ist ein politisches Statement», schloss er daraus. Das Vertrauen in den Staatenbund sei geschwunden. Gute Bedingungen für die Wirtschaft zu schaffen um Investitionen zu erleichtern, sei in aller Interesse. Da ging Verheugen mit Thomas Staehelin einig, der sich ein besseres Klima für die Wirtschaft der Schweiz wünschte.
Europa steht vor grossen Herausforderungen
Noch sei man hierzulande nicht «so zergrübelt» wie die Deutschen, man nähere sich aber schon an. Auch in Sachen Innovation, wo die Schweiz, die europaweit jahrelang die besten Plätze belegt habe, habe man nachgelassen.
«Erwarten Sie bitte von mir keine Lösungen für Probleme», fügte Verheugen hinzu. Als drängendste Probleme sieht er in Zeiten der MEI die Verhandlung über die Bilateralen Verträge sowie die Diskussion über die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als gemeinsame übergeordnete Instanz. Letzteres, stellte er fest, «dürfte nicht leicht beizulegen sein».
Ganz Europa stehe gerade vor grossen Herausforderungen, die man nur gemeinsam lösen könne. Die wirtschaftliche und demografische Marginalisierung des europäischen Kontinents schreite fort. Das wirtschaftliche Zentrum der Welt bewege sich zunehmend Richtung Asien. Eine Tendenz, der man nur gemeinsam begegnen könne. «Es braucht eine neue Philosophie der europäischen Integration», schliesst er daraus.
Ein erfolgreicher Dialog zwischen der Schweiz und dem europäischen Staatenverbund sei möglich. Erfolgreich angenähert habe man sich beispielsweise in der Weissgeldstrategie. Deren Brisanz sei überschätzt worden. «Ich kann nicht sehen, dass sie die Schweiz im Innersten bedroht», beurteilte er die Situation. «Es wäre vielleicht für alle Beteiligten besser gewesen, wenn diese Einsicht früher gekommen wäre», resümierte er.
«Die Schweiz muss sichtbarer werden in der EU.»
In Sachen Freizügigkeit, Masseneinwanderungs-Initiative und Bilaterale sei die Lage keinesfalls hoffnungslos: Die Freizügigkeit sei zwar eine der Grundfreiheiten der EU und als solche fast sakrosankt. Aber auch einzelne europäische Länder kämpfen mit einer Antwort auf die Migrationsfrage, womit sich die EU beschäftigen müsse. Er begrüsste den von Handelskammer-Direktor Franz Saladin eingebrachten Vorschlag einer Schutzklausel als neue Anregung. Wenn es der Schweiz dazu noch gelinge, ihr Anliegen mit dem Grossbritanniens zu verbinden, sei das ein Ansatz für einen Fortschritt in den Verhandlungen.
Die Sicht der EU: Das kleine Land mit der Extrawurst
Dazu müsse man aber unbedingt mehr miteinander reden. Die Kommunikation Schweiz–EU lasse zu wünschen übrig. Die Schweiz stehe nicht sehr hoch in der Brüsseler Agenda, zudem hafte ihr der Ruf an, eines der Länder zu sein, das «immer eine Extrawurst gebraten haben wolle».
«Die Schweiz muss sichtbarer werden in der EU», mahnte Verheugen an. Politik und auch Wirtschaftsverbänden riet er, Präsenz zu zeigen. Regelmässige Treffen gebe es bin anhin wenig, das müsse sich ändern. «Ich rufe dazu auf, dass wir versuchen, uns besser zu verstehen», appellierte er an beide Parteien.
Auf eine Frage von Thomas Staehelin, die sich unausgesprochen wohl auf die Verhandlungen des Bundesrats zu den Bilateralen bezog, ob es nicht sinnvoll sei, erst einmal abzuwarten und das Problem auszusitzen, antwortete Verheugen mit einem dedizierten «Nein». Das sei die denkbar schlechteste Lösung. Es gebe einen gewissen Zeitrahmen, um Konflikte zu lösen. Und auch die Schweiz, erinnerte er, habe dabei viel zu verlieren.
«Die Festung Europa war ethisch niemals vertretbar.»
Andererseits habe die Schweiz viel einzubringen in die EU, man baue auf gemeinsamen Werten auf. Europa habe der Welt ein System anzubieten, das «nicht aus Gewinnstreben, Machtausübung und Unterdrückung besteht und in dem Menschenrechte eine Realität für alle sind».
Keine europäische Antwort auf die Migrationsströme
Auch eines der grössten Probleme der Gegenwart, den Umgang mit Migration, müsse man gemeinsam lösen. «Die Migrationsströme werden grösser werden, und wir haben keine Antwort», steckte er die Fragestellung ab. «Die Festung Europa war ethisch niemals vertretbar.» An Alternativen müsse ganz Europa zusammen arbeiten.
Zunächst jedoch gelte es, mit dem System zu arbeiten, in dem man sich befinde. «Es ist kein anderes verfügbar», gab Verheugen realistisch zu. Eine Zollunion oder ein Assoziierungsvertrag sei für die Schweiz keine Alternative. Und seine eigene europäische Vision, «ein Binnenmarkt von Lissabon bis Wladiwostok», wohl noch weit entfernt.