Briten fürchten den freien Tag

Immer mehr Menschen auf der Insel sind auf Abruf. Sie arbeiten nur dann, wenn ihr Arbeitgeber sie aufbietet. Unternehmen loben die flexiblen Verträge. Doch für viele Arbeiter bedeuten sie Unsicherheit.

Der Streik an der Universität Bath brachte den Verkehr zum Erliegen. (Bild: Stephan Pruss)

Immer mehr Menschen auf der Insel sind auf Abruf. Sie arbeiten nur dann, wenn ihr Arbeitgeber sie aufbietet. Unternehmen loben die flexiblen Verträge. Doch für viele Arbeiter bedeuten sie Unsicherheit.

Diesen Streik an der Universität Bath dürften sich die Organisatoren anders vorgestellt haben. Auf der hunderte Meter langen, mit Bäumen gesäumten Zufahrtstrasse zum Campusgelände stauten sich zwar Autos und Busse. Den universitären Alltag in Bath konnte einige Dutzend Streikende jedoch nicht lahmlegen. Dabei hatten sie sich viel vorgenommen: eine Aktion gegen «the fat cats that get the cream.» So nennt Marie Morley, die lokale Vertreterin der Hochschulgewerkschaft UCU, die Institutsleiter. Es geht um Geld und Sozialleistungen, aber auch um Solidarität. Solidarität mit den Menschen, die in sogenannten Null-Stunden-Verträgen angestellt sind und sich fast gänzlich den Wünschen ihrer Arbeitgeber fügen müssen (siehe Box).

Die aufstrebende Bildungsstätte in der südenglischen Stadt bedient sich ausgiebig dieser Praxis. Fast 1600 Menschen haben hier einen Null-Stunden-Vertrag unterschrieben. Keine andere Hochschule in England hat mehr davon ausgestellt. Den Gewerkschaften sind solche Verträge ein Dorn im Auge. Sie erschüttern den britischen Wohlfahrtsstaat bis ins Mark. Gewerkschafter bezeichnen die Verträge als «skandalös» und als «Angriff auf das Bildungssystem».

1 Million Null-Stunden-Verträge

Doch nicht nur im Bildungssektor haben sich Null-Stunden-Verträge verbreitet. Besonders im Gesundheitsbereich, Detailhandel und in der Gastronomie stellen Chefs vermehrt unter diesen Bedingungen ein. Das Nationale Statistikamt beziffert die Anzahl der Null-Stunden-Verträge auf 250’000. Diese Zahl hat sich als falsch erwiesen, weil viele Menschen die Art ihres Vertrages gar nicht kennen. Eine Schätzung des Personalverbandes CIPD geht sogar von einer Million aus. Eine von der Gewerkschaft Unite beauftragte Firma legt noch einmal drauf. Laut ihrer Umfrage sind es 5,5 Millionen.

Nicht nur über die Anzahl dieser Verträge wird heftig gestritten. Sondern auch, ob es sie überhaupt geben sollte. Einige Gewerkschafter und die Grüne Partei fordern ein sofortiges Verbot. Unternehmen sehen das ganz anders. Alexander Ehmann leitet die Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Arbeitgeberverband IOD. Er sagt: «Viele unserer Mitglieder sagen uns: ‹Wenn es keine Null-Stunden-Verträge gäbe und jeder Vertrag eine minimale Stundenzahl beinhalten müsste, könnten wir gar keine Arbeit anbieten.›» In diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten müssten alle flexibel sein, mahnt Ehmann, gesteht aber ein, dass nicht jeder gerne in einem Null-Stunden-Verhältnis arbeite. «Doch dafür ist es überhaupt Arbeit. Und das ist besser, als gar keine Arbeit zu haben.»

Regulierung gefordert

Kim Hoque ist Professor für Personalwesen an der Warwick Business School. Er sagt: «Unternehmen finden immer Situationen, in denen sie solche Bedingungen rechtfertigen können.» Null-Stunden-Verträge sollten seiner Meinung nach zwar nicht gänzlich verboten, dafür aber reguliert werden. Denn: «Sie werden mehr zur Regel als zur Ausnahme. Und sie öffnen Missbrauch Tür und Tor.» Einige Unternehmen würden die Verträge als disziplinarisches Mittel einsetzen. Ganz nach dem Motto: Wer sich fügt, bekommt Arbeit.

Betriebe preisen die Flexibilität unter den Verträgen. Kritiker beschreien sie als Ausbeutung. Sie sagen: Betriebe würden sich nur ums Kostensparen scheren. Und was sehen die Arbeiter selbst in Null-Stunden-Verträgen? Die meisten vor allem Unsicherheit. «Ich weiss nicht, wie viel ich am Ende des Monats verdiene», sagt ein spanischer Immigrant, der in einem Café bedient. Die Arbeiter können fast unmöglich planen. Kredite, Hypotheken, Kreditkarten oder Mietverträge: Das alles erhält nur, wer ein ausreichendes Einkommen nachweisen kann.

Auch im Buckingham Palast

Die Arbeitgeber verweisen auch auf ihre unsichere Lage. Zum Beispiel beim Gründen eines Betriebes. Und ausserdem: «Wenn die Wirtschaft wieder ins Rollen kommt, wird es weniger Null-Stunden-Verträge geben. Dann müssen Arbeitgeber um Angestellte werben. Das werden die Gesetze des Marktes regeln», sagt Ehmann.

Hoque unterschreibt diese Ansicht nicht: «Null-Stunden-Verträge sind Teil der Personalpolitik von Unternehmen wie McDonald’s, Burger King, Domino’s Pizza oder Sports Direct. Sie stecken mehr als 90 Prozent ihrer Mitarbeiter in Null-Stunden-Verträge. Das ist keine wirtschaftszyklische Angelegenheit.»

Recherchen der britischen Zeitung «The Guardian» stützen das. Sie haben ergeben: Null-Stunden-Verträge finden ihren Weg selbst in die Besucherattraktionen des Buckingham Palasts. Über den Sommer sind 350 Arbeiter unter solchen Konditionen angestellt gewesen – im Dienste der Königin.

Was sind Null-Stunden-Verträge?

Null-Stunden-Verträge sind auf der Insel ein ganz heisses Eisen. Angestellte gelten nicht als solche, sondern als Arbeiter. Der Arbeitgeber setzt sie nach Bedarf ein. Ein Anrecht auf Beschäftigung besteht nicht. Der Arbeiter darf Angebote ablehnen. Urlaubsgeld ist meistens inkludiert, Krankengeld nicht. Der Lohn liegt gemäss einer Studie der Denkfabrik Resolution Foundation bei 236 Pfund pro Woche. Das sind ungefähr 1500 Franken im Monat. Gewöhnliche Angestellte verdienen rund doppelt so viel.

 

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