Noch verhandeln die Briten mit der EU über Reformen. Schon bald werden sie über einen Ausstieg abstimmen. Der Alleingang gewinnt an beiden Polen des Parteispektrums Anhänger, und manche möchten mit der Schweiz gemeinsame Sache im Rahmen der EFTA machen.
Jetzt muss der Premierminister doch etwas konkreter werden. Wochenlang hatten sich EU-Beamte beklagt, dass die Gespräche mit Grossbritannien feststecken, weil die britischen Minister nicht sagen konnten, was sie eigentlich wollen. Gestern lenkte Cameron schliesslich ein: Er wird seine Forderungen in den kommenden Wochen schriftlich festhalten und klar darlegen, was für Reformen er will – und über was die Briten letztendlich abstimmen werden.
Das EU-Referendum kommt spätestens Ende 2017, möglicherweise auch schon nächstes Jahr. Derzeit versucht David Cameron, der EU Zugeständnisse abzuringen, um die Euroskeptiker in seiner eigenen Partei zu beschwichtigen. Cameron macht es vom Verhandlungsergebnis abhängig, ob er sich für einen Verbleib in der EU oder für einen Austritt einsetzen wird.
Er fordert unter anderem Garantien von Brüssel, dass Grossbritannien von der fortschreitenden europäischen Integration ausgenommen bleibt, dass es zu keiner Vorherrschaft der Euro-Länder innerhalb der EU kommt, und dass die nationalen Gesetzgeber gegen gewisse EU-Bestimmungen ihr Veto einlegen können.
Ist die Schweiz ein Vorbild für die Euroskeptiker? «Wie streben nicht die Schweizer Option an», sagt Robert Oulds, Direktor des konservativen Thinktanks Bruges Group. «Ein Problem ist, dass die EU wohl nicht bereit wäre, eine so komplexe Vereinbarung auszuhandeln wie die Bilateralen Verträge mit der Schweiz.»
Doch Oulds sieht eine Möglichkeit, dass Grossbritannien im Fall eines EU-Austritts der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) beitreten könnte, zu deren Mitgliedern nebst der Schweiz auch Norwegen und Island gehören. «Wir wollen den Einfluss der EFTA gegenüber der EU stärken, und das würde auch der Schweiz in ihren Verhandlungen mit der EU helfen.» Auf der anderen Seite könnten die Briten viel von den Schweizern lernen bezüglich der Art und Weise, wie ein einzelnes Land erfolgreich Verhandlungen führt.
In der gegenüberliegenden Ecke der Debatte stehen die Freunde der EU, die ihre Kampagne am Montag lancierten. Einige sind kritischer als andere, aber alle wollen sie auf jeden Fall in der EU bleiben und allfällige Reformen von innen angehen. Die Gruppe der Befürworter ist breit gefächert: Sie umfasst die Mehrheit der Abgeordneten aller grossen Parteien, einen Teil der Gewerkschaften und die meisten Unternehmensverbände.
Vor vier Jahrzehnten war dies die Position eines Grossteils der britischen Linken: 1973 stellten sich die Gewerkschaften und die Basis der Labour-Partei gegen einen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Gegen Ende der 1980er-Jahre jedoch, nach einem Jahrzehnt des Thatcherismus, sahen Labour und die Gewerkschaften in der Europäischen Gemeinschaft zunehmend einen Schutzfaktor gegen den Abbau der Arbeitnehmerrechte. Erst mit der Eurokrise und den drakonischen Sparprogrammen, die den Mittelmeerländern in den vergangenen Jahren auferlegt worden sind, äussert sich die britische Linke wieder kritischer.
So wirbt auch das linke Wahlbündnis Trade Union and Socialist Coalition (TUSC) für einen Austritt aus der EU: «Die Europäische Union ist ein neoliberales Projekt», sagt Clive Heemskerk, Wahlkampfleiter der TUSC. «Sie besteht aus einer Reihe von Verträgen, die die Rechte der Arbeiter ausgehöhlt haben. Sie verunmöglichen es dem Staat, in die Wirtschaft einzugreifen und Dienstleistungen wie Verkehr in der öffentlichen Hand zu behalten.»
In der «Raus»-Kampagne muss Hopkins jetzt wohl oder übel mit Leuten zusammenarbeiten, deren politische Haltung seiner diametral entgegengesetzt ist. Wie um zu zeigen, dass er mit dem Nationalismus und dem Kleingeist der Europhoben am rechten Rand nichts zu tun hat, beginnt er von seiner Liebe zu Europa zu schwärmen: von Beethoven und Verdi, von intellektuellen Errungenschaften wie dem Marxismus, von französischem Wein und der Schönheit des Gotthardmassivs. «Ich bin ein ausgesprochener Eurozentriker, aber die EU ist ein politisches Konstrukt, das die Demokratie auf dem Kontinent untergräbt.»
Konservative Schwergewichte möchten die Personenfreizügigkeit reformieren. Doch in diesem Punkt hat David Cameron kaum Spielraum.
Dass die Europäische Union ein Garant für Frieden ist auf dem Kontinent, weist Hopkins zurück. «Wir sehen heute Spannungen in Europa, die erst durch die EU provoziert worden sind. In Griechenland etwa sind viele der Meinung, dass die Deutschen ihre Wirtschaft zertrümmert haben.» Eine Zusammenarbeit, die nicht allen Staaten nütze, würde weitere Konflikte dieser Art schüren.
Mit der Wahl Jeremy Corbyns zum Labour-Chef, dessen Vorbehalte gegen die EU in eine ähnliche Richtung gehen, wird dieser Standpunkt an Prominenz gewinnen – die Zehntausenden neue Labour-Mitglieder, die die Partei seit der Wahl hinzugewonnen hat, sind keine Zentristen vom Schlag Tony Blairs, sondern linke Aktivisten, die ihre Hoffnung auf einen Richtungswechsel der Labour-Partei unter Corbyn setzen.
Doch zurzeit ist die Immigration laut Meinungsumfragen für einen guten Teil der Euroskepsis in der britischen Bevölkerung verantwortlich. Während über längere Zeit eine klare Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU war, insbesondere junge Wähler, ist es in den letzten Wochen knapper geworden – gemäss einer neueren Umfrage haben sogar die Eurokritiker die Nase vorn, rund 20 Prozent sind unentschieden.
Auch konservative Schwergewichte wie der Londoner Bürgermeister Boris Johnson oder die Innenministerin Theresa May haben kürzlich durchblicken lassen, dass ihr Enthusiasmus für die EU Grenzen hat, wenn die Personenfreizügigkeit nicht reformiert wird – genau der Punkt, bei dem David Cameron kaum Spielraum hat. Der Premierminister wird in den kommenden Wochen vorsichtig manövrieren müssen, um seine Partei nicht vollends zu spalten.