Mit der Aktivierung der Ventilklausel wird der Bundesrat die Zuwanderung aus der EU nicht entscheidend beeinflussen können – aber die Diskussion darüber.
Zwar wollte es Bundesrätin Simonetta Sommaruga nicht explizit sagen, zwischen den Zeilen schimmerte die wahre Absicht hinter der Aktivierung der Ventilklausel aber immer wieder durch. «Wir haben es der Bevölkerung stets so vermittelt», sagte die Justizministerin am Mittwoch vor den Medien mehrmals – und meinte eigentlich: «versprochen». Tatsächlich war die Anrufung der Ventilklausel integraler Bestandteil der Abstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die sogenannten EU-8-Staaten (Estland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik) gewesen; ein Sicherheitsnetz, um eine ungebremste Zuwanderung zu verhindern. Angewendet darf die Klausel werden, wenn die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen in einem Jahr den Durchschnitt der vergangenen drei Jahre um zehn Prozent überschreitet. Das hat sie: Seit der Einführung der vollen Personenfreizügigkeit für die EU-8 Staaten vor einem Jahr kamen rund 7000 Menschen aus Osteuropa in die Schweiz. Der Bundesrat hätte die Ventilklausel bereits bei 2000 Aufenthaltsgesuchen aktivieren können.
4000 Gesuche weniger
Nun wird die Zahl der möglichen Aufenthaltsbewilligungen für ein Jahr auf 2000 kontingentiert und danach entschieden, ob die Ventilklausel noch länger angewendet wird. Spätestens 31. Mai 2014 ist dann allerdings Schluss mit der Ventilklausel, danach gilt die volle Personenfreizügigkeit für alle EU-Staaten. Man rechne bis ins Jahr 2014 mit rund 4000 Gesuchen weniger, sagte Sommaruga, «aber genau können wir das nicht sagen».
Grund für die vage Angabe ist laut der Justizministerin die innere Logik der Zuwanderung: Nicht die Politik ist die bestimmende Kraft, sondern die Wirtschaft. Und wenn die Wirtschaft die zusätzlichen Arbeitskräfte braucht, wird sie diese aus dem restlichen europäischen Raum anheuern. «Dem Bundesrat ist bewusst, dass die Ventilklausel nicht die Lösung sämtlicher Probleme darstellt. Es ist nur ein Element von vielen», sagte Sommaruga, um danach noch einmal anzufügen, dass man der Bevölkerung die Anwendung der Ventilklausel «stets vermittelt» habe.
In die Debatte einschalten
Es ist dies der entscheidende Punkt: In der Öffentlichkeit wird die Kritik an der Personenfreizügigkeit und der damit zusammenhängenden stärkeren Zuwanderung immer lauter. Ausdruck davon ist SVP-Initiative gegen die «Masseneinwanderung», das Migrationspapier der SP, ja auch die Zustimmung zur Zweitwohnungsinitiative kann man in einem weiteren Sinne als Konsequenz einer zunehmenden Unsicherheit der Bevölkerung lesen. Mit der Aktivierung der Ventilklausel – und der am Mittwoch ebenfalls angekündigten Überprüfung der flankierenden Massnahmen – schaltet sich der Bundesrat aktiv in die Zuwanderungsdebatte ein und versucht Gegensteuer zu geben. «Zuwanderung muss gesellschaftsverträglich sein», sagte Sommaruga. Ob die Zuwanderung als Belastung oder Bereicherung empfunden werde, sei keine Frage der Quantität, «sondern eine des Zusammenlebens».
Streit mit der EU
Die symbolhafte Anwendung der Ventilklausel ist dem Bundesrat auch einen Konflikt mit der EU wert. Richard Jones, EU-Botschafter in der Schweiz, hat Sommaruga dargelegt, dass aus Sicht der EU die Ventilklausel gar nicht angewendet werden könne – weil sie nur einen Teil der EU betrifft. «Wir haben hier zwei unterschiedliche Interpretationen», sagte Sommaruga und kündigte an, dass der Bundesrat auf seiner Sichtweise beharren werde. Inwiefern die EU die Anwendung der Klausel ver- oder behindern könnte, wurde nicht klar. Allerdings scheint der Bundesrat – auch weil die Anwendung der Ventilklausel auf zwei Jahre beschränkt ist – keinen grossen Widerstand aus Brüssel zu erwarten.
Voraussehbare Reaktionen
Von bürgerlicher Seite war die Anwendung der Ventilklausel schon länger gefordert worden; entsprechend befriedigt zeigten sich Vertreter von FDP, SVP und CVP gestern. Allerdings machten auch die konservativen Kräfte Einschränkungen: Für die FDP ist es unbefriedigend, dass die Klausel nur für ein Jahr und nicht gleich für zwei Jahre angewendet werden soll, und die SVP fordert erneut Neuverhandlungen der gesamten Personenfreizügigkeit: «Nur so kann die Schweiz die eigenständige Steuerbarkeit der Zuwanderung zurückgewinnen.»
Auf linker Seite wird die Symbolhaftigkeit der Ventilklausel betont. In einer ersten Stellungnahme sagte SP-Präsident Christian Levrat, mit der Aktivierung der Klausel zeige die Politik, dass sie nicht schlafe. Viel entscheidender sei allerdings die Verschärfung der flankierenden Massnahmen. Vorschläge dazu hat die SP in ihrem Migrationspapier mehrere gemacht, breit debattiert werden diese spätestens anfangs Mai, an einer Sondersession des Parlaments.