Barack Obama mag als liberaler Präsident gelten. Doch im Anti-Terrorkampf setzt er die autoritäre Politik seines Vorgängers absolut nahtlos fort.
Im US-Marinestützpunkt Guantánamo hat am Wochenende mit dem Verlesen der Anklage der Prozess gegen den mutmasslichen Chefplaner der Anschläge vom 11. September 2001, Chalid Scheich Mohammed, und vier weitere Verdächtigte (s. Glossar) begonnen. Es soll teilweise recht chaotisch zugegangen sein. Verteidigerin Cheryl Bormann habe sich sogar über die „nicht angemessenen“ und zur Sünde verleitenden Röcke der Frauen im Team der Anklage beschwert. Mehrere Angehörige der 2.976 Opfer des 11. September 2001 durften zuschauen und erleben, wie sich die Angeklagten dem Gericht durch Gebete verweigerten. Das Verfahren gegen den 2003 festgenommenen und mit Waterboarden gefolterten Scheich Mohammed findet nun doch vor einem Militärtribunal in Guantánamo statt. Die US-Regierung will offenbar beweisen, dass auch ein solches Gericht für einen fairen Prozess bürgt. Durch Folter erpresste Geständnisse dürfen in dem Verfahren jedenfalls nicht verwendet werden.
Dabei hatte Barack Obama gleich nach Amtsantritt im Januar 2009 die Schliessung des Lagers versprochen. Die Angeklagten sollten vor einem zivilen Gericht in New York zur Verantwortung gezogen werden, verfügte Justizminister Eric Holder. Das ist nicht passiert, wegen des «heftigen Widerstands» republikanischer, aber auch demokratischer Politiker.
In der politischen Atmosphäre der frühen siebziger Jahre hätte nur ein gestandener Antikommunist wie der republikanische Präsident Richard Nixon nach Peking reisen und Mao Zedong besuchen können, analysierten damals Beobachter der amerikanischen Aussenpolitik. Gegenwärtig wird über eine andere Wende sinniert: Vielleicht konnte nur ein gelernter und liberaler Verfassungsrechtler – nämlich der Demokrat Barack Obama – in seinem Land rechtliche Strukturen und Reformen festzurren, die dem Präsidenten und den Sicherheitsorganen mehr Macht geben als jemals zuvor in der modernen Geschichte der USA. Kritiker sprechen gar von einem Fundament für einen autoritären Staat.
Klagen von Menschenrechtler werden hingenommen
Doch diese Gegenwehr erklärt nicht alles. Guantánamo, international geächtet, kann als Symbol dafür gelten, dass Präsident Obama bei der «Sicherheitspolitik» abgesehen von seinem Bekenntnis, er lasse nicht foltern, fast nahtlos dort weitermacht, wo George W. Bush aufgehört hat – auf dem Weg zur imperialen Präsidentschaft. Hingenommen wird das ohne grossen Protest, abgesehen von Klagen versprengter Bürger- und Menschenrechtler. Das ist jetzt so in den USA: Die terroristische Bedrohung rechtfertigt, dass man eben härter zugreift. Man lebe in einer «gefährlichen Welt», wie Aussenministerin Hillary Clinton sagt.
Obama als ein Erbe von Bush: Das will eigentlich nicht passen zum Image eines Präsidenten der Hoffnung und des Wandels. Die Zeitschrift Foreign Affairs, herausgebracht vom Council on Foreign Relations, einem Denkverband der Elite, hat kürzlich lobend Bilanz gezogen: Obama sei «wenn möglich» ein progressiver Politiker; «wenn nötig», sei er aber «pragmatisch». Und angesichts der Umstände «hat der Pragmatismus dominiert». In der Praxis sei Obama «relativ unideologisch» vorgegangen, geleitet von einem «realistischen übergeordneten Bewusstsein der Rolle der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert».
Angefangen hat dieser Pragmatismus mit Obamas Weigerung, Mitarbeiter der Bush-Regierung zur Rechenschaft zu ziehen für Folter, Geheimgefängnisse und Überstellungen, bei denen Terrorismusverdächtige entführt und an folternde Drittländer ausgeliefert wurden. Der einzige CIA-Beamte aus dem Kreis der Terrorismusbekämpfer und Verhörer, der inzwischen gerichtlich belangt wird, ist der frühere Counterinsurgency-Experte John Kiriakou, der 2007 für Aufsehen in den US-Medien sorgte, als er die Praxis des Waterboardings bestätigte. Kiriakou wird vorgeworfen, er habe Reportern die Namen von drei CIA-Beamten mitgeteilt, die an Operationen gegen al-Qaida beteiligt gewesen seien.
Es geht ethisch zu
US-Präsidenten neigen schon lange dazu, militärisch einzugreifen, ohne dass – wie die Verfassung vorschreibt – der Kongress den Krieg erklärt. Offiziell blieb unter Obama der Begriff «globaler Krieg gegen den Terror» verpönt; doch hatte er nichts dagegen, wenn seine Strategen erklärten, eine durch den Terrorismus veränderte Sicherheitslage mache erweiterte Machtbefugnisse des Präsidenten nötig. Da gibt es keine grossen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern. Ein Beispiel ist der Einsatz von Drohnen. Die unbemannten Flugkörper sind in der Ära Obama zum bevorzugten Tötungswerkzeug der USA im Kampf gegen ihre Gegner geworden. Ferngesteuert werden sie vorwiegend von Mitarbeitern der CIA. Vor einer Woche hat John Brennan, Obamas leitender Anti-Terrorismusberater, erstmals umfassend bestätigt, was die Opfer des Drohnen-Krieges in Pakistan, Jemen, Libyen und auf den Philippinen seit Jahren wissen: Der Einsatz von Drohnen ist Routine gegen mutmassliche Kommandeure terroristischer Verbände.
Man wolle bei Drohnen «transparenter werden», sagte Brennan bei einer Ansprache in Washington. Drohnen würden eingesetzt «in Übereinstimmung mit dem Gesetz, um terroristische Angriffe zu verhindern … und amerikanische Menschenleben zu retten». Bei der Planung gehe es ethisch zu. Es werde diskutiert, Berater hätten verschiedene Meinungen. Letztendlich entscheidet der Präsident über Leben und Tod. Warum Drohnen-Angriffe nach Ansicht der Regierung «legal» seien (auch in Ländern, mit denen sich die USA nicht im Krieg befinden) hat Jeh Charles Johnson, Rechtsberater des Verteidigungsministeriums, im Februar an der Yale-Universität erläutert: Der Kongress habe doch eine Woche nach den Anschlägen von 9/11 den Präsidenten befugt, den Einsatz militärischer Macht gegen mit den Anschlägen in Verbindung stehende Nationen, Organisationen und Personen zu befehlen, um «künftige Taten des internationalen Terrorismus gegen die Vereinigten Staaten zu verhindern».
Wie Washington Post und New York Times kürzlich schrieben, sind die Vorschriften für Drohnen erweitert worden: Drohnen dürften jetzt nicht nur gegen «hochwertige Ziele» eingesetzt werden, sondern auch schon, wenn etwa im Jemen «Muster verdächtigen Verhaltens» beobachtet werden. Die Drohnen, könnte man sagen, sind zu einer Luftwaffe des Präsidenten geworden, einsetzbar nach Gutdünken.
Mutiger Entscheider
In der Army zeichnet sich ein Paralleltrend ab: Die Streitkräfte seien in einer «Zeit des Übergangs», meinte Stabschef General Ray Odierno kürzlich. Sie bereiteten sich auf neuartige Konflikte vor, auf hybrid warfare; die Army der Zukunft werde in «Umgebungen tätig sein mit regulären militärischen und irregulären paramilitärischen oder zivilen Gegnern». Sie bewege sich weg von «aktiver Teilnahme an grossen Operationen». Gefragt sind Spezialeinheiten, die der Präsident und seine Generäle rapide, vielseitig und im Geheimen und am Kongress vorbei einsetzen können.
Amerikaner wiegen sich gern in der Sicherheit, irgendwie ausgenommen zu sein von extremen sicherheitsstaatlichen Massnahmen. Obama belehrt sie eines Besseren. Ende 2011 hat er ein Gesetz unterzeichnet, dass die US-Justiz auch US-Bürger bei Terrorismusverdacht ohne Prozess unbegrenzt lange inhaftieren darf. Der Präsident entscheidet, ob die Betroffenen zivilen oder militärischen Gerichten vorgeführt werden. Das schockierte dann doch. Dass Obama eine solche Macht beanspruche, hatte man nicht erwartet. Der reagierte und liess wissen, er werde von diesem Recht keinen Gebrauch machen.
Unterschrieben habe er trotzdem, moniert der Rechtswissenschaftler Jonathan Turley, der autoritäre Staat definiere sich nicht nur durch das, was er tue, sondern auch durch das, was er tun könne. Das gilt ebenso für die Überwachung. Wie Geheimdienstexperte James Bamford kürzlich im Magazin Wired enthüllte, baut die National Security Agency (NSA) derzeit im Staat Utah das weltgrösste Datenzentrum auf, um weite Teile der Kommunikation im Aus- und Inland abfangen, entschlüsseln, analysieren und speichern zu können. Begonnen habe das Projekt unter George W. Bush, vollendet werde es im Herbst 2013 unter Obama, sollte der für eine zweite Präsidentschaft gewählt werden.
Methoden, wie sie die NSA gegen Feinde von aussen entwickelt habe, kämen nun auch gegen Amerikaner zum Zuge, klagt einer von Bamfords Gewährsleuten, der frühere ranghohe NSA-Mitarbeiter William Binney. Der Entschlüsselungs-Experte ist aus der NSA ausgestiegen: Die Behörde verletze die Verfassung. Doch stört das nur die wenigsten. Man hat sich überzeugen lassen: Wie sonst können wir uns gegen Terrorismus schützen? Der Präsident hat gerade bei seinem Auftritt in Kabul versichert, man habe die «Führung al-Qaidas dezimiert und mehr als 20 bis 30 Führer ausgeschaltet».
Es ist Wahlkampf, und die Obama-Kampagne rückt die sicherheitspolitischen Errungenschaften des Präsidenten ganz nach vorn. In einem 90-Sekunden-Spot erläutert Ex-Präsident Bill Clinton die Lage: George W. Bush hätte recht gehabt mit seinem Spruch, der Präsident sei der decider in chief, der Chef-Entscheider. Und Obama sei eben ein mutiger Entscheider, wenn es um die Sicherheit der USA gehe.