«Charlie Hebdo»… verzweifelt gesucht

Das hat es noch nie gegeben. Eine Auflage von drei Millionen Exemplaren für eine französische Zeitschrift. Eine Auflage, die nicht gross genug ist und auf fünf Millionen aufgestockt werden muss. Trotzdem findet man in Paris kaum ein Exemplar des neuen «Charlie Hebdo», wie ein Selbstversuch zeigt.

Typische Strassenszene in Paris: Vor den Kiosken bilden sich lange Schlangen – alle wollen die neue Ausgabe von «Charlie Hebdo». (Bild: Rudolf Bussmann)

Das hat es noch nie gegeben. Eine Auflage von drei Millionen Exemplaren für eine französische Zeitschrift. Eine Auflage, die nicht gross genug ist und auf fünf Millionen aufgestockt werden muss. Trotzdem findet man in Paris kaum ein Exemplar des neuen «Charlie Hebdo», wie ein Selbstversuch zeigt.

Unerhört im Wortsinn war gestern das Erklingen der Marseillaise im französischen Parlament. Mitten in der Debatte über die Konsequenzen der Attentate von letzter Woche stimmten alle Parlamentarier spontan in die von einem Mitglied der UMP angestimmte Nationalhymne ein, seit Jahrzehnten zum ersten Mal.

Unerhört auch der einstimmige Applaus von links bis rechts nach der besonnenen Rede von Ministerpräsident Manuel Valls. Nie gesehen in den letzten 150 Jahren die Mobilisation der Franzosen am Wochenende, die allein in Paris am Sonntag gegen zwei Millionen Menschen auf die Strasse brachte. Und am Mittwochmorgen schliesslich wurde das Erscheinen von «Charlie Hebdo» zu einer Demonstration der Leser, die ihresgleichen sucht.

Innert Minuten ausverkauft

Man war vorgewarnt. Reportagen vor Ort berichteten im Radio am Montagmorgen von einem landesweiten Ansturm auf die Kioske. In Nantes, in Rouen, in Lyon, genau wie an den Pariser Bahnhöfen warteten die ersten Leute schon um halb sechs Uhr auf die Öffnung des Kiosks, in Marseille bereits um fünf. Innerhalb von Minuten waren dann die Stösse mit Zeitschriften weg.

Nur wenige hatten Glück und konnten sich die neuste Ausgabe von «Charlie Hebdo» ergattern.

Nur wenige hatten Glück und konnten sich die neuste Ausgabe von «Charlie Hebdo» ergattern. (Bild: Rudolf Bussmann)

Die Schlaueren hatten ein Exemplar reserviert, die meisten Käufer wurden von der Nachfrage ebenso überrascht wie die Verkäufer. Was tun, um zu einer der begehrten Ausgaben zu kommen?

Nichts überstürzen. Erst Yoga machen. Dann in Ruhe frühstücken. Das kleine Café, in dem ich normalerweise die Zeitung kaufe, ist wenig frequentiert, dort wird es noch jede Menge des Blatts haben. Um neun gehe ich los. Keine Schlange vor dem Lokal, ein gutes Zeichen. Ein verstohlener Blick auf die Zeitungen, welche die Heraustretenden in den Händen halten: «Charlie Hebdo» ist nicht dabei.

Nie erlebtes Gedränge

Im Innern herrscht ein nie erlebtes Gedränge. «Charlie Hebdo» sei ausverkauft, sagt die sichtlich entnervte Verkäuferin. Einige Leute verlassen wortlos den Laden oder halten sich mit einer andern Zeitung schadlos. Ich kaufe den «Canard Enchaîné», um zumindest ein Satiremagazin in den Händen zu haben und auch deshalb, weil die Redaktion inzwischen Morddrohungen erhalten hat. Dann mache ich mich auf den Weg zum Kiosk an der nahegelegenen Métro-Station.

Eine kleine Schlange davor. «Es hat kein ‹Charlie Hebdo› mehr», ruft es aus dem Innern – der meistzitierte Satz dieses Tages. Kaufe zum Trost «Le Parisien», der zwölf Extraseiten «Je suis Charlie» verspricht. Vor dem nächsten Kiosk das gleiche Bild, die gleiche Auskunft. Ein unzufriedener Kunde verlangt den Chef zu sprechen. «C’est moi», sagt der Verkäufer. Der Mann zieht ab.

Die «Libération» hat auf der Titelseite 66-mal «Charlies» Titelkarikatur von Mohammed abgebildet, die seit gestern im Internet und auf den Fernsehkanälen herumgeistert. Immerhin habe ich jetzt das satte Grün in den Händen, das ich suche – wenn auch ohne die 16 Seiten, um die es ginge. Langsam dämmert mir, dass ich mit leeren Händen zurückkehren werde.

An der Place de la Bastille weist der Verkäufer die Wartenden weg, er habe definitiv keine Exemplare mehr. Sechzig hatte er davon erhalten, normalerweise verkauft er fünf «Charlies». Sein Kollege von über der Strasse verkauft sonst drei bis vier, heute waren die 50, die bei ihm eintrafen, sogleich weg.

Warum kaufen Sie «Charlie Hebdo»?, ist die stereotype Frage der Journalisten vor Ort, und die Antwort ist stets die gleiche: Um die Meinungsfreiheit zu unterstützen. Eine alte Frau, welche die Zeitschrift nie las, will sich künftig ein Abo zulegen.

Das Cover ist ein Wurf

Alle demonstrieren durch den Kaufakt auf pragmatische, aktive Weise, wie wichtig ihnen das Prinzip der Freiheit ist. Stolz schwingt in ihren Stimmen mit. Würden die Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit von der Öffentlichkeit derart vehement eingefordert, die Republik wäre gerettet.  

Das Titelblatt des Karikaturisten Luz ist ein genialer Wurf. Nicht nur, weil es durch die Abbildung von Mohammed zeigt, dass man sich nicht einschüchtern lassen wird. Sondern auch, weil es sich in seiner Vieldeutigkeit von keiner Seite vereinnahmen lässt.

«Je suis Charlie», wohin man blickt: Ganz Paris ist dieser Tage im «Charlie»-Fieber.

«Je suis Charlie», wohin man blickt: Ganz Paris ist dieser Tage im «Charlie»-Fieber. (Bild: Rudolf Bussmann)

Mohammed weint. Aus Mitleid mit den Opfern? Aus Angst vor dem, was die Moslems jetzt am meisten fürchten: «être amalgamé», in einen Topf mit den Islamisten geworfen zu werden? Er hält das Schild «Je suis Charlie» vor sich hin – als Aufruf zur religiösen Toleranz? Als Bekenntnis zur Pressefreiheit?

Am meisten gibt die Überschrift «Tout est pardonné» zu reden. Sie karikiert eine der zentralen Tugenden des Christentums, an die es gleichzeitig erinnert. Wer verzeiht hier wem?
Dass es nicht die übriggebliebenen Redaktoren sind, die in einem Akt der Grosszügigkeit ihren Aggressoren verzeihen, hat der Chefredaktor Gérard Biard auf «France 2» klargestellt. Ein Moslem zeigte sich in «Radio France Info» vom Bild beeindruckt, für ihn repräsentiere es alle Moslems, die in Trauer seien. Andere meinten darin, wenn es auf den Kopf gestellt wird, einen erigierten Penis zu sehen. Jeder liest aus dem Bild die Botschaft, die er sucht.

Alle wollen «Charlie Hebdo»

Auf dem Heimweg komme ich an einem Kiosk vorbei, vor dem eine Schlange von bisher nicht gesehener Länge steht. Er ist noch nicht geöffnet. Wird vielleicht auch gar nicht öffnen? Es warten etwa 40 Leute. Ich überschlage: Falls sich das angelieferte Quantum in der Höhe von 50 oder 60 Magazinen bewegt, kann ich mir eine Chance ausrechnen.

Um halb zehn erscheint der Inhaber, öffnet im Bewusstsein seiner Wichtigkeit die Türen, klappt sie bedächtig wie zwei Altarflügel auf und stellt würdevoll die gewohnte Auslage hin, als sei weit und breit kein Kunde zu sehen.

Spannung der Wartenden: Gibt es ihn, oder gibt es ihn nicht? Die ersten Käufer kommen mit «Charlie» in der Hand daher. Es gibt ihn! Ein Hoch auf die Spätaufsteher unter den Kioskinhabern!
Wird es für die Wartenden auf Position zehn Meter noch reichen?

Keiner, der hier steht, will etwas anderes als nur «Charlie». Einer der glücklichen Käufer zeigt im Weggehen auf meiner Höhe in die Reihe und sagt: Ungefähr bis hierher wird es haben. Hinter mir hat sich die Kolonne verdoppelt, wir sind jetzt etwa 70 Leute.

Eine alte Frau, die vorübergeht, schüttelt den Kopf: Warum sich in die Schlange stellen? Das bekomme ich doch auch morgen. Sie will «Charlie Hebdo» bloss lesen. Wir wollen ihn besitzen. Und zwar jetzt!

Das Fieber hat uns ergriffen. Eine Trophäe nach der anderen wird davongetragen. Manche haben zwei oder drei in der Hand, das verringert meine Chance. Der Fünfte vor mir geht mit einem Exemplar davon. Der Dritte.

Ich bekomme den Vorrat in den Blick: ein kleines Häufchen. Dann halte ich «Charlie» in den Händen. Es ist einige Minuten vor zehn. Um zehn Uhr, meldet etwas später «France Info», sind die 700’000 Exemplare, die in der Stadt Paris ausgeliefert wurden, restlos ausverkauft.

Getötete in Karikaturen präsent

Ist das, was nun vorliegt, Nummer eins oder die Nummer 1178? Die Ausgabe reiht sich ohne Abstriche ein in die Folge der ihr vorangehenden Ausgaben, wenn man von der auf die Hälfte reduzierten Seitenzahl absieht. Das Attentat, das die Redaktion dezimiert hat, ist für die Leser so präsent, dass es nicht eigens hochgespielt werden muss.

Die Getöteten sind durch ihre Karikaturen präsent, die sie noch vollendet hatten, Wolinski wenige Minuten vor seinem gewaltsamen Tod. Extremismus, Heuchelei, Herrschaftsdenken in all ihren Formen sind das Ziel der Zeichner: Der Papst, der zusammen mit dem Vertreter des Islams und des Judentums vor einem Globus stehend die Welt aufteilt. Eine Stellenvermittlerin, welche drei zurückkehrenden Jihadisten einen Job als Wachmann bei Carrefour anbietet (Cabu).

Eine orientalische Schöne, unten ohne, oben mit Burka, umgeben von Turbangesichtern, die im Gesicht eine Penisnase tragen (Tignous). Und wie immer die Portion wohltuender Selbstironie: Catherine Meurisse, eine der Überlebenden, die unter dem Titel «Eine Familie von Clowns dezimiert, zehn wiedergefunden», die um Präsident Hollande versammelten Grössen zeigt, worunter Sarkozy nicht fehlen darf.

Kaum zu glauben, dass die Redaktion die Kraft und den Mut zu einer derart frischen Nummer hatte. Für alle, die sie verpassten: Sie wird an den Kiosken noch mehrere Wochen zu haben sein. Für jene, die sie tatsächlich lesen wollen.


Rudolf Bussmann ist derzeit «Writer in Residence» in Paris, seine Texte erscheinen regelmässig in seinem Blog.

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