Russlands Staatsfeind Nummer eins ist frei. Nachdem Präsident Wladimir Putin am Freitag Michail Chodorkowski begnadigte, überschlugen sich die Ereignisse. Noch am Nachmittag traf der ehemalige Oligarch in Berlin ein.
Plötzlich geht alles ganz schnell, Ereignisse überschlagen sich. Erst am Donnerstagnachmittag hatte Wladimir Putin eher beiläufig verkündet, Michail Chodorkowski aus der Haft zu entlassen: «Ein Erlass über seine Begnadigung wird in nächster Zeit unterschrieben», sagte er. Schon am Freitagmorgen setzte Russlands Präsident dann seinen Namen unter ein entsprechendes Dekret. Nur wenige Stunden später verliess der bekannteste Häftling Russlands die Strafanstalt in Segescha, in der nordwestrussischen Teilrepublik Karelien. Mit einem Hubschrauber ging es offenbar zunächst nach Sankt Petersburg. Dort folgte der nächste Coup: Chodorkowski bestieg einen Privatjet nach Deutschland.
Der 50-Jährige hatte um 12.20 Uhr sein Gefängnis in der Nähe der finnischen Grenze verlassen. Den Wortlaut von Putins Erlass stellte der Kreml ins Internet: «Geleitet von Prinzipien der Humanität erteile ich die Anweisung, den Verurteilten Michail Borissowitsch Chodorkowski, geboren 1963 in Moskau, zu begnadigen und ihn vom weiteren Abbüssen der Freiheitsstrafe zu befreien.»
Zehn Jahre sass Chodorkowski in Haft. Jetzt ist er frei.
Zwei Mal war er zu Lagerhaft verurteilt worden, wegen Steuerhinterziehung und Unterschlagung, sein Ölimperium Yukos wurde in den Staatskonzern Rosneft integriert. Menschenrechtler kritisieren die Prozesse als politisch motiviert: Putin habe seinen Erzfeind kaltstellen wollen. Im August 2014 wäre seine Haftzeit offiziell abgelaufen. Ein erneuter Prozess hätte ihn für weitere Jahre ausser Gefecht gesetzt, wahrscheinlich bis über die nächste Wahl hinaus.
An eine Freilassung Chodorkowskis hätte noch vor wenigen Tagen niemand zu denken gewagt. Im Gegenteil: Seit einiger Zeit machten in Moskau Gerüchte über einen dritten Prozess die Runde, der in Vorbereitung sein und dafür sorgen sollte, dass Chodorkowski für weitere Jahre hinter Gittern verschwindet. Gegen den einst reichsten Mann Russlands und Chef des Ölkonzerns Yukos werde unter anderem wegen Geldwäsche ermittelt, «mit guten gerichtlichen Perspektiven», erklärte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Anfang Dezember.
Doch auf einmal sprach Putin am Donnerstag davon, zehn Jahre Haft seien «eine ordentliche Zeit» und stellte eine Freilassung in Aussicht. Da ahnten augenscheinlich nicht einmal Chordorkowskis engste Vertraute, welche Überraschung auf sie zukommen sollte.
Gnadengesuch ja, Schuldeingeständnis nein
Und so herrschte Verwirrung, ob Putins Gegner tatsächlich, wie es offiziell hiess, ein Gnadengesuch an den Präsidenten gerichtet hatte. Chodorkowski hatte es stets abgelehnt, weil es einem Schuldeingeständnis gleichkäme. Er weist alle Anschuldigungen von sich. Chodorkowski selbst erklärte auf seiner Internetseite am Freitagnachmittag, dass er am 12. November ein Gnadengesuch gestellt habe. Dabei sei es nicht um ein Schuldeingeständnis gegangen.
Doch selbst seine Mutter wusste anscheinend von nichts. Sie habe ihren Sohn zuletzt im Sommer gesehen, berichtete sie der Zeitung «Kommersant». Von seiner Entscheidung habe sie aus den Medien erfahren. «Putins Worte, dass ich und mein Mann Boris krank sind, sind wahr. Ich habe drei Monate im Krankenhaus verbracht». Marina Chodorkowskaja sagte weiter, sie wisse aber nicht, ob ihr Sohn den Begnadigungsantrag «unter Druck oder unter Diktat» geschrieben habe.
Der «Kommersant» weiss von einem Gespräch zwischen Mitarbeitern des Geheimdienstes und Russlands bekanntestem Häftling. Über den sich verschlechternden Gesundheitszustand der krebskranken Mutter soll es darin gegangen sein und über den drohenden dritten Prozess. Chodorkowskis Anwälte waren angeblich nicht anwesend. Manch ein Beobachter fühlt sich bei dem Vorgehen an KGB-Manieren erinnert.
Offene Fragen
Zwei Fragen bleiben an diesem Tag unbeantwortet. Eine lautet: Warum hat Putin seinen Erzfeind begnadigt? Eine mögliche Antwortet sehen viele in Putins neuer Stärke. Russland vermittelte im Syrien-Konflikt und in den Atom-Gesprächen mit dem Iran. Im Sommer gewährte der Präsident dem US-Whistleblower Edward Snowden Asyl. Gleichzeitig holte Putin auch noch die Ukraine in seine Einflusszone zurück. Von der Opposition im eigenen Land ist schon länger wenig zu hören. Putin ist auf der Höhe seiner Macht, das «Forbes»-Magazin kürte ihn zum mächtigsten Mann der Welt. Da kann er sich erlauben, gnädig zu sein, neben Pussy Riot und Greenpeace-Aktivisten auch noch Chodorkowski freizulassen, kurz vor den Olympia in Sotschi, seinen Prestigespielen.
Doch wie geht es mit Chodorkowski weiter? Das war nicht einmal am Tag seiner Entlassung klar. Seine Reise nach Deutschland – am Nachmittag landete er in Berlin – stiftete reichlich Verwirrung. Die deutsche Botschaft in Moskau habe ihm unbürokratisch ein Visum erteilt, hiess es. Chodorkowski wollte seine Mutter besuchen, berichteten Medien zunächst. Die soll zur Behandlung in einer Berliner Klinik gewesen sein, inzwischen ist sie aber anscheinend bereits zurück in Russland. Angeblich wusste Chodorkowski nichts von ihrer Rückkehr.
In Zukunft, das hatte er immer wieder erklärt, will sich Chodorkowski für die Gesellschaft engagieren und aus Politik und Wirtschaft raushalten. Die bekannte Bürgerrechtlerin Ludmila Alexejewa sieht den Freigelassenen in den Fussspuren des Sowjet-Dissidenten Andrej Sacharow, der für sein Engagement für Menschenrechte den Friedensnobelpreis erhielt.
Am Freitag hoffte aber Chodorkowskis Familie, den verlorenen Sohn endlich wieder in ihre Arme schliessen zu können. Sie könne kaum begreifen, was seit Donnerstagnachmittag geschehe, sagte Marina Chodorkowskaja dem Sender «Russia Today». Die ganze Familie freue sich über die Freilassung, erklärte Vater Boris Chodorkowski. «Wir warten auf unseren Sohn.» Michail Chodorkowski kündigte an: «Ich warte auf die Möglichkeit, die kommenden Feiertage im Kreis meiner Familie zu verbringen.»