Die Ecopop-Initiative will nicht nur die «Überbevölkerung» in der Schweiz stoppen, sondern auch in Entwicklungsländern. Doch der von westlichen Entwicklungsorganisationen verordnete Geburtenrückgang ist wenig erfolgreich, wie ethnologische Forschung in Asien und Afrika zeigt. Wirkungsvoller wäre Schulbildung für Frauen.
Shalini Randeria fühlt sich manchmal ein wenig wie im falschen Film: In den 70er-Jahren, als sie in Neu-Delhi zur Schule ging, propagierten grosse Regierungsplakate: «Eine kleine Familie ist eine glückliche Familie.»
Zehn Jahre später während ihres Doktorats in Heidelberg stand auf ebenso grossen Plakaten: «Kinder bringen mehr Freude ins Leben.» Notabene aufgehängt von einer Regierung, die sich in Entwicklungsländern gleichzeitig für die Reduzierung der Geburtenrate bei Frauen stark machte.
«Wenn die Welt sowohl als überbevölkert als auch als unterbevölkert wahrgenommen wird – je nachdem, welches Land und welche ethnische Gruppe oder Klasse im Mittelpunkt der Betrachtung stehen –, sind es immer die ‹Anderen›, die zu viel sind», schrieb Randeria später in einem Artikel über Bevölkerungspolitik.
Malthus‘ lebendige «Naturgesetze»
Shalini Randeria.
Heute ist Shalini Randeria Professorin für Sozialanthropologie und Soziologie am «Institut de hautes études internationales et du développement» in Genf. Seit über 20 Jahren kritisiert sie polemische Überbevölkerungs-Debatten, die in regelmässigen Abständen sowohl von links als auch von rechts lanciert werden. Und sie setzt sich für die Frauenbildung ein, den effektivsten Faktor gegen Überbevölkerung, den sie jedoch explizit nicht als Mittel zum Zweck verstanden haben will.
«Überbevölkerung ist zum ‹common sense› geworden. Sie hat eine Faktizität erhalten, welche die ursprüngliche politische Natur hinter dieser Art des Denkens verschleiert», reklamiert Randeria. Diese politische Natur ist bei Thomas Malthus und seinem «Essay on the Principle of Population» von 1798 zu suchen. Die Ursachen der Hungersnöte im 18. Jahrhundert fand Malthus in den überzähligen Armen und nicht in einer ungleichen Verteilung oder einer fehlenden Solidarität.
Seine Ablehnung von staatlicher Armenfürsorge bedeutete in letzter Konsequenz: Lasst die Armen verhungern, damit die Privilegierten ihren Status quo halten können. Heute befürworten zwar die meisten vor der Überbevölkerung warnenden Stimmen eine staatliche Intervention; der Diskurs beinhaltet aber nach wie vor zwei zentrale Aspekte des malthusianischen Denkens: die Angst vor zu wenig Ressourcen und die Angst vor den Armen, die dafür verantwortlich sind. Neu hinzugekommen sind: die Angst vor Migration und Umweltzerstörung.
«Niemand stellt infrage, dass Kleinfamilien in Europa einen Zweitwagen brauchen. Dass eine Frau in Afrika ein drittes Kind gebären will, schon.»
Besonders die noch junge Kopplung von Überbevölkerung und Umwelt, wie sie der Ecopop-Initiative zugrunde liegt, findet Randeria höchst problematisch: «Niemand stellt infrage, dass Kleinfamilien in Europa einen Zweitwagen brauchen. Dass eine Frau in Afrika ein drittes Kind gebären will, wird hingegen als Belastung für unsere Unwelt angesehen.» Eine Debatte zur Überbevölkerung ohne gleichzeitig über Ressourcenverbrauch und -verteilung zu diskutieren, sei nicht nur heuchlerisch, sondern auch sinnlos, ist Randeria überzeugt.
Dass in den Industrieländern niemand an der Ressourcenverteilung schrauben will, ist nicht weiter erstaunlich. Fängt man jedoch damit an, eröffnen sich neue Perspektiven: «Wäre nicht auch eine andere Philosophie des Gemeinwohls denkbar; eine, in der diejenigen mehr Ressourcen verbrauchen dürfen, die mehr Kinder haben?», fragt Randeria. Doch das scheint illusorisch, denn das Gedankengut Malthus ist so lebendig wie eh und je und bis heute in entwicklungspolitischen Debatten zur Überbevölkerung zu finden. Die Tatsache, dass Menschen ohne ausreichende Lebensgrundlagen in Asien und Afrika verhungern oder nach Europa flüchten, wird darauf zurückgeführt, dass sie zu viele sind. Die logische Folgerung: Die Geburtenzahl pro Frau (Fertilität) muss sinken.
Zwangssterilisierungen und «Cafeteria Approach»
Entwicklungsprogramme, um genau dies zu erreichen, haben eine lange Geschichte: Indien war 1951 der erste Staat, der sich die Geburtenreduzierung explizit auf die Fahne schrieb. Die Theorie von der «Überbevölkerung» war zu dieser Zeit in der indischen Mittelschicht bereits Allgemeinwissen. Schliesslich hatte Malthus den ersten Lehrstuhl für Politische Ökonomie am East India College in Haileybury inne, an dem britische Kolonialbeamte ausgebildet wurden.
Abgesehen von drastischen und gewaltsamen Interventionen Mitte 70er-Jahre, darunter die Zwangssterilisierung von über fünf Millionen Männern, setzte die indische Regierung auf «Freiwilligkeit» und den von den USA unterstützten «Cafeteria Approach»: Staatsbeamte machten indischen Paaren bei Hausbesuchen Pillen, Kondome und Spiralen schmackhaft. All das mit einem einzigen Ziel: die Geburtenzahlen auf ein von der Zentralregierung vorgegebenes Soll zu reduzieren.
Randeria betrieb 1999 und 2001 selber Feldforschung in Gujarat (Westindien) und Uttar Pradesh (Nordindien). Sie wollte verstehen, wie Soll-Geburtenzahlen zwischen den Frauen auf dem Land, Beamten in den Dörfern, dem Ministerium in Neu-Dehli, der amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID und der Weltbank zustande kamen. «Dabei wurde mir klar, dass Familienplanung in Indien – wie auch in China – nicht die Planung der gewünschten Kinderzahl durch die Ehepaare, sondern die Planung der Geburten durch bürokratische Massnahmen bedeutet», schrieb sie später in einem Artikel.
Randeria erkannte auch, dass die millionenschweren Programme sowie der insbesondere auf die verarmte, ländliche Bevölkerung ausgeübte Zwang mit Soll-Kontingenten – bis hin zu Menschenrechtsverletzungen – am Ende nur einen geringen Einfluss auf die tatsächliche Geburtenrate hatten. Sie verglich die offiziellen Zahlen der verbrauchten Verhüttungsmittel in einzelnen indischen Bundesstaaten mit denjenigen der entsprechenden Gesamtfertilitäts-Raten. Doch sie konnte keinen direkten Zusammenhang feststellen.
Der Bundesstaat Kerala zum Beispiel hatte die geringste Geburtenrate Indiens (1,8 Kinder pro Frau), obwohl lediglich 40,5 Prozent der Frauen in gebährfähigem Alter (15 bis 45) moderne Verhütungsmittel benutzten. Der Punjab hingegen zeigte mit 2,7 Kindern pro Frau eine wesentlich höhere Geburtenrate, obschon laut Statistik über 66 Prozent der Paare Familienplanung betrieben.
Kondome werden zwar oft dankbar angenommen, aber genutzt werden sie ebenso oft als Deko für Kindergeburtstage oder zum Flicken von Velopneus.
Randeria erklärt diese Diskrepanz unter anderem damit, dass sich die meisten Frauen in Indien im Alter zwischen 30 und 35 Jahren sterilisieren lassen; also nachdem sie bereits die gewünschte Anzahl Kinder geboren haben. Ähnliches haben Ethnologen auch in Afrika beobachtet: Die amerikanische Anthropologin Caroline Bledsoe hat gezeigt, dass moderne Verhütungsmittel in vielen Ländern Afrikas nicht primär zur Verringerung der Anzahl Kinder dienen, sondern vielmehr zur strategischen Planung des Zeitpunkts und der Geburtsumstände.
Kleinfamilien nach europäischem Zuschnitt erscheinen den meisten wenig attraktiv, denn Kinder gelten oft als Chance zur Verbesserung der ökonomischen Situation und des Status der Familie. Der in Kenia, Simbabwe und Botswana beobachtete Geburtenrückgang führte die Anthropologin in erster Linie auf den wirtschaftlichen Aufschwung und zunehmende politische Stabilität zurück und nicht auf die Verbreitung von Verhütungsmitteln. Aus Feldforschungen im ländlichen Asien weiss man zudem, dass Pillen und Kondome zwar oft dankbar angenommen werden, dies aber noch lange nicht bedeutet, dass sie auch zweckgemäss eingesetzt werden. Kondome werden auch als Deko für Kindergeburtstage oder wegen der hohen Qualität des Kautschuks zum Flicken von Velopneus genutzt, wie in Bangladesch beobachtet.
Wunsch nach Grossfamilien
Natürlich gibt es auch Studien, die die Variation der Fertilitätsrate zwischen unterschiedlichen Ländern zu 90 Prozent auf Unterschiede in der Nutzung von Verhütungsmitteln zurückführen. Steige deren Verwendung um 15 Prozent, so verhindere dies durchschnittlich ein Kind pro Frau, heisst es in einem Artikel des «Scientific American» von 1993. Als Beweis dafür wird Bangladesch angeführt, wo der massive Anstieg von Verhütungsmitteln zwischen 1970 und 1990 die Geburtenrate von 7 Kindern auf 5.5 gedrückt haben soll. Mit der Investition von einigen Milliarden Dollar in Kontrazeptiva wäre somit das Bevölkerungsproblem zu lösen, folgerten die Autoren.
Eine Nachricht, die bei vielen Planern von Antinatalitäts- und Entwicklungshilfe-Programmen Gehör fand. Doch kurz darauf kam eine Studie des Weltbank-Ökonomen Lant Pritchett zu den genau gegenteiligen Befunden: Er verglich Daten des «World Fertility Survey» zur durchschnittlich erwünschten Kinderzahl in unterschiedlichen Ländern mit den tatsächlichen Geburtsraten. Und er kam zum Schluss, dass 90 Prozent der hohen Fruchtbarkeitsraten in Entwicklungsländern in erster Linie auf den Wunsch nach Kinderreichtum und nicht auf das Fehlen von Kontrazeptiva oder mangelndes Wissen zu Verhütung zurückzuführen ist. Das heisst: Will man das Bevölkerungswachstum tatsächlich bremsen, so muss man – ganz im ökonomischen Jargon – die hohe Nachfrage nach Kindern reduzieren und nicht das Angebot an Verhütungsmitteln vergrössern.
Zugang zu Bildung als Schlüssel
Ethnologinnen und Historiker haben gezeigt: Bis heute gibt es keine Allerwelts-Lösungen, mit denen man einen Geburtenrückgang forcieren könnte. Am besten lassen sich Unterschiede durch Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen sozio-ökonomischen Faktoren erklären.
Randeria zum Beispiel hat in einer Studie im südindischen Bundesstaat Kerala eine ganze Reihe von Faktoren gefunden, welche den Rückgang der Fertilitätsrate zwischen 1979 und 1991 von durchschnittlich 3 Kindern pro Frau auf 1.8 zu erklären helfen. Darunter eine hohe Alphabetisierungsrate, längere Ausbildungszeiten, einen traditionell hohen gesellschaftlichen Status der Frau, ein matrilineares Erbrecht, spätes Heiraten und eine niedrige Mutter- und Kindersterblichkeit dank guter staatlicher Gesundheitsversorgung.
Hinzu kam, dass die Regierung in Kerala konsequente Agrarreformen durchführte und Pensionen etablierte. Am Ende war die geringe Fertilitätsrate Keralas also eine ungeplante Folge von fortschrittlicher staatlicher Sozialpolitik, die in erster Linie das Wohl der Bevölkerung anvisierte und weniger die demographische Entwicklung. Heute liegt die Fertilitätsrate Keralas etwa auf mitteleuropäischem Niveau.
Trotz aller interdependenten Wechselwirkungen scheint es zumindest einen kontextunabhängigen Faktor zu geben: «Alle verfügbaren Studien zeigen, dass eine höhere Frauenbildung die Geburtenrate senkt», sagt Randeria. Also in Frauenbildung investieren, anstatt Pariser verteilen?
So evident die Korrelation ist, Randeria findet sie trotzdem problematisch: «Selbst wenn die Forschung zeigen würde, dass Frauen mit höherer Bildung mehr Kinder kriegen, müsste man trotzdem darin investieren.» Schliesslich sei Bildung ein Wert für sich; ein Menschenrecht und staatliche Pflicht, «und kein Verhütungsmittel!»
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Alles zur Ecopop-Initiative bei der TagesWoche in der Übersicht.