«Das Erdbeben gibt uns die Chance, ein neues Nepal aufzubauen»

Das verheerende Erdbeben vom letzten April hat in Nepal auch 8000 Schulhäuser zerstört. Jetzt baut Caritas Schweiz in Zusammenarbeit mit Helvetas 34 Schulen wieder auf. Doch der Weg zurück in die Normalität ist noch weit.

Im Distrikt Sindhupalchok in der tibetischen Grenzregion sind fast alle Häuser zerstört oder unbewohnbar beschädigt. In dieser Gegend entstehen die Schweizer Schulhäuser.

(Bild: Peter Jaeggi)

Das verheerende Erdbeben vom letzten April hat in Nepal auch 8000 Schulhäuser zerstört. Jetzt baut Caritas Schweiz in Zusammenarbeit mit Helvetas 34 Schulen wieder auf. Doch der Weg zurück in die Normalität ist noch weit.

Vom einstigen grossen Schulhaus ist nur das eiserne Eingangstor stehen geblieben. Dahinter liegt ein einziger, riesiger Trümmerhaufen. Auf den Ziegelsteinen erkennt man vom Regen ausgewaschene Schulhefte. Wir sind in Gyalthum im Distrikt Sindhupalchok in Zentralnepal und stehen vor einem der 8000 eingestürzten Schulgebäude des Landes.

Die Erdbebenfolgen beeinträchtigen fast alle Bereiche des täglichen Lebens. So ist auch der Schulweg gefährlicher geworden. Herabfallende Felsbrocken und Steine auf erodierten Hängen bedrohen die Schüler, die manchmal bis zu vier und mehr Stunden täglich unterwegs sind. Eltern haben Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Viele gehen deshalb nicht mehr hin.

Bereits vor dem Beben besuchten 1,2 Millionen schulpflichtige Kinder nie den Unterricht. Denn in Nepal geniesst die Schule zwar theoretisch einen hohen Stellenwert, in der Praxis aber hat sie einen schlechten Ruf. «Nepal pflegt an seinen Volksschulen weitestgehend noch ein sehr traditionelles Bildungsmodell», sagt Anil Sapkota, der in Nepal die Nichtregierungsorganisation Fair Education leitet. «Die Lehrperson steht vor der Klasse und doziert Texte. Die Kinder müssen sie nachsprechen und auswendig lernen. Oft ohne zu wissen, was dahintersteckt.»

Wie zu Zeiten Pestalozzis

Die Klassen sind häufig riesig. Marilyn Hoar, die bei Unicef Nepal das Bildungsdepartement leitet, berichtet von Lehrkräften, die teilweise mehr als 70 Schüler in einem Raum unterrichten. Bei diesem Frontalunterricht gibt es keine Gruppenarbeit, kein interaktives Lernen. Die Klassengrössen verunmöglichen individuelle Betreuung.

Ein Viertel lebt in Armut
Fast ein Viertel der 27,2 Millionen Nepalesen lebt unter der Armutsgrenze. Im ländlichen Nepal sind die hygienischen Bedingungen prekär. Gerade mal 20 Prozent der Haushalte verfügen über eine Latrine und nur etwa die Hälfte hat Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jährlich sterben in Nepal rund 13’000 Kinder unter fünf Jahren an den Folgen von verschmutztem Trinkwasser und mangelnder Hygiene. Seit 2006 ein Friedensabkommen den blutigen Bürgerkrieg beendet hat, ist vieles besser geworden. 1995 lebten noch 42 Prozent der Bevölkerung in Armut. Der Weg in eine politisch und wirtschaftlich stabile Zukunft ist aber noch weit. Die Diskriminierung und Ausbeutung von Minderheiten, der unteren Kasten und Kastenlosen, von Frauen und Kindern ist immer noch weit verbreitet.

Dies hängt auch mit der mangelhaften Ausbildung des Lehrpersonals zusammen. Interaktiver Unterricht ist meist unbekannt. 90 Prozent des Lehrpersonals habe kaum eine Ahnung von Didaktik und Methodik, sagt Anil Sapkota. Er kritisiert auch den Lehrplan scharf. Musische Fächer zum Beispiel gebe es so gut wie nicht. «Der Staat sollte viel mehr in die Lehrer-Weiterbildung investieren», findet Sapkota.

Dass es in sehr vielen Schulzimmern Nepals noch immer wie zu Pestalozzis Zeiten ausschaut, hat auch viel mit der Schulhausarchitektur zu tun: dunkle, enge Klassenzimmer. So eng, dass die Lehrperson nicht jeden Schüler erreichen kann. Da stehen Schulbänke, auf denen fünf sechs Schüler zusammengepfercht sitzen. Eine altertümliche, fixe Wandtafel. Viel zu wenige Fenster und damit düsteres Licht – bei täglichen Stromausfällen von mehreren Stunden. Schlechte Durchlüftung der Räume. Keine Zimmer und Ecken, wo man sich zurückziehen und in Ruhe lesen könnte.

Draussen zu wenig Platz zum Spielen. Mangelhaft gepflegte Toiletten – nicht selten ohne Wasser. Alles in allem so ziemlich das Gegenteil dessen, was eine lern- und kinderfreundliche Atmosphäre ausmacht.

Unruhen verzögern den Wiederaufbau

Bringt jetzt das Erdbeben eine Wende? Denn jetzt plant Caritas Schweiz im schwer zerstörten Distrikt Sindhupalchok für 9,1 Millionen Franken 34 neue und kinderfreundliche Schulhäuser, mitfinanziert auch von Helvetas und Glückskette. Neue Schulhäuser – bessere Schulen? Marilyn Hoar von Unicef sagt: «Eine kinder- und lernfreundliche Architektur hat einen motivierenden Einfluss.»

Wenn die Schulräume Platz böten, die Klassen nicht zu gross seien und das Mobiliar beweglich, dann fördere dies moderne Unterrichtsformen. Genau diesen Intentionen folgt Caritas Schweiz. Die Bauarbeiten sollen im Januar beginnen. Allerdings drohen wegen der angespannten politischen Lage Verzögerungen.

Proteste gegen die neue Verfassung erschweren den Wiederaufbau. Seit Monaten blockieren Demonstranten die wichtigen Transportwege aus Indien. Nepal ist stark abhängig von seinem Nachbarn. So gibt es kaum mehr Treibstoff, auch Kochgas und andere wichtige Güter sind knapp geworden. Die Preise für Lebensmittel steigen, auch jene der für den Wiederaufbau benötigten Materialien (Eisen, Beton usw.).

«In Nepal läuft im Baugewerbe wegen der gegenwärtigen Wirtschaftsblockade nichts mehr. Auch der Wiederaufbau für die 34 Schulen kann in den Bergen von Sindupalchok nicht wie geplant durchgeführt werden. Dies aufgrund der erhöhten Preise für Baumaterialien, die sich mehr als verdoppelt haben, und der fehlenden Transportmittel», erklärt Peter Eppler, Leiter des Caritas-Nepal-Büros. 

Das Schulhaus als Musterbau

Falls die Krise nicht bis Ende Jahr gelöst werde, müsse man mit grösseren Verzögerungen rechnen. «Das Ausnützen der Zeit bis zum kommenden Juni wäre aber umso wichtiger, da wegen der einsetzenden Regenzeit die Bauarbeiten in den Bergen wiederum erschwert sein werden.» Wie lange die Blockaden und damit verbundene Unruhen noch dauern, ist ungewiss.

Wenn die neuen Schulhäuser dann endlich gebaut werden können, wird die Erhöhung der Erdbebensicherheit ein wichtiges Ziel bilden. Dafür sollen armierte Betongerüste sorgen. Die traditionelle Bauweise mit Ziegelsteinen und Lehmmörtel ohne Versteifungen hielt dem Beben vom April nicht stand. Daneben werden die Caritas-Schulhäuser grosse, helle Räume haben mit genügend Fenstern und Türen. Pro Schüler sind 1,2 Quadratmeter Platz berechnet – noch vor Kurzem gestand der Staat jedem knapp die Hälfe zu – 0,7 Quadratmeter.

Lehrerzimmer, Bücher- und Aufenthaltsräume, im Haus integrierte Toiletten gehören ebenso dazu wie Spiel- und Pausenplätze. Khagendra Nepal, Direktor im nepalesischen Bildungsdepartement, sieht im Caritas-Schulhaus sogar einen Musterbau, der für den Wiederaufbau im ganzen Land als Vorbild dienen könne.

Menschenhändler im Helfergewand
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Die Schule ist das Dorfzentrum

Hoffnung macht in dieser schwierigen Situation die Bedeutung von Bildung in Nepal. Schule und Lehrer geniessen einen höheren Status als in der Schweiz. Peter Eppler sagt: «Die Schule ist das Zentrum eines Dorfes. Ein Lehrer hat in diesem Land, das noch stark nach Autoritäten ausgerichtet ist, in der Gesellschaft eine wichtige Stellung.»

Eppler weist auf Arbeiten des indischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Amartya Sen hin, die belegen, dass es Ländern besser geht, die viel in Bildung und Erziehung investieren. Neue Schulhäuser sind für Eppler darum eine bedeutende Investition in Nepals Zukunft.

Anil Sapkota von Fair Education, der seine Schulhausbauten mit Dorfentwicklungsprogrammen koppelt, erklärt: «Ich sage es den Menschen hier immer wieder: Seid nicht allzu traurig wegen dieses Erdbebens. Es gibt uns die Chance, ein neues Nepal aufzubauen.»

Das Erdbeben
Beim Erdbeben vom 25. April 2015 mit der Stärke 7,6 bis 7,8 (je nach Quelle) sind fast 9000 Menschen gestorben, Zehntausende wurden verletzt. Laut Regierungsangaben wurden rund eine halbe Million Häuser zerstört. Darunter jahrhundertealte historische Bauten.
Etwa ein Drittel der nepalesischen Bevölkerung wurde von den Erdbebenfolgen in Mitleidenschaft gezogen. Betroffene Familien haben vom Staat bis heute umgerechnet nur gerade 150 Franken als Nothilfe erhalten. Viel zu wenig für ein neues Haus. Ob es noch mehr geben wird, wissen Geschädigte nicht. Allerdings hat die Regierung 2000 Franken pro wieder aufzubauendes Haus vorgesehen. Der Staat lässt seine Bürger aber im Ungewissen.
Die Regierung Nepals steht in der Kritik wegen Versäumnissen bei den Hilfsmassnahmen. Der Staat habe noch keine konkreten Pläne für die Verwendung der zugesagten 4,1 Milliarden Dollar und auch noch nichts für den Wiederaufbau ausgegeben, sagt der Chef der Wiederaufbau-Behörde, Govind Raj Pokharel. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass fast drei Millionen Überlebende Unterkünfte, Nahrung und medizinische Versorgung benötigen. Viele von ihnen leben in nur schwer zugänglichen Himalaya-Regionen. Laut Peter Eppler sind die Schulhausbauten von Caritas Schweiz nicht von den Versäumnissen betroffen, da man das Geld direkt vor Ort in die Projekte investiere. Ohne Umweg über den Staat.

 

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