Die gebürtige Wienerin Marion Hoffmann hat für das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge gearbeitet und kennt Krisenregionen in Pakistan, Rwanda und dem Irak aus jahrzehntelanger Arbeit. Was sie derzeit in Griechenland erlebt, erschüttert sie.
Das neue Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei wird von vielen Hilfsorgansiationen kritisiert. «Ärzte ohne Grenzen» und UNHCR haben aus Protest ihre Arbeit in Griechenland reduziert. Etwa 50’000 Flüchtlinge stecken vorerst in Griechenland fest und müssen versorgt werden.
Marion Hoffmann
Drei Jahrzehnte lang hat die gebürtige Wienerin Marion Hoffmann Krisenregionen aus nächster Nähe erlebt. Für das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) hat sie unter anderem in Pakistan, Rwanda, dem Irak und dem Iran gearbeitet.
Zuletzt war Hoffmann die Vizechefin des UNHCR-Büros in Griechenland. Da sie nach ihrer Pensionierung weiter in Athen lebt, ist sie immer noch mitten im Geschehens der neuen Flüchtlingskrise. Hoffmann hat einen Brief an die österreichische Regierung mit unterzeichnet, um gegen die unmenschliche Flüchtlingspolitik zu protestieren.
Frau Hoffmann, ist das EU-Abkommen mit der Türkei gut für die Flüchtlinge?
So, wie das Abkommen geschlossen wurde – in aller Hast und Eile, und ohne Rücksicht darauf, dass es sich um Menschen handelt und nicht um Zahlen – ist es mit internationalen Grundlagen für den Flüchtlingsschutz nicht vereinbar. Der Plan sieht vor, schutzsuchende Menschen, die aus Mangel an Hilfe von aussen alles riskiert haben, um sich zu retten, in eine höchst ungewisse, erniedrigende und aussichtslose Lebenssituation zurückzuschicken. Laut Europäischer Kommission wäre für die Realisierung des Abkommens folgende enorme Infrastruktur nötig – und zwar ab sofort. Unter anderem wären 600 Beamte zur Bearbeitung der Asylanträge, 400 Dolmetscher, 1500 Polizeibeamte sowie 1000 Armee und Sicherheitskräfte nötig. Dazu wären noch nötig: 10 Berufungskomitees aus 30 griechischen und 30 Richter aus anderen europäischen Mitgliedsstaaten. Man braucht noch einige Hundert Beamte für die Rückführung, acht Schiffe mit Kapazität von bis zu 400 Menschen. Dann auch noch 20’000 Unterkünfte auf den griechischen Inseln. Nur 6’000 existieren heute.
Ist das ein Aufgebot, das Menschen, von denen viele den furchtbarsten Kriegsverbrechen entkommen sind, entspricht?
Keineswegs. Frauen, Kinder, unbegleitete Kinder – alle werden hinter Stacheldrahtzäune gepfercht, in Vorbereitung zum Abtransport in die Türkei.
Menschenrechtsorganisationen bezweifeln, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist. Auch die griechische Regierung rückt nun von einer solchen Anerkennung ab. Zu Recht?
Die Türkei hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, jedoch mit bedeutenden Einschränkungen. Voller Schutz und Rechte für anerkannte Flüchtlinge aus nicht-europäischen Ländern ist in der Gesetzgebung der Türkei nicht vorgesehen. Das bedeutet, dass Menschen, die aus Syrien, aus dem Irak oder aus Afghanistan kommen, keinen dauerhaften Schutz in der Türkei finden können. Sie sind nicht davor gefeit, eventuell in die Gefahrenzonen zurückgeschickt zu werden. Eine Zusatzgefahr besteht darin, dass ja die Türkei selbst in die Konflikte in Syrien und im Irak tief verwickelt, also alles andere als neutrales Territorium, ist.
Auch Athen wird kritisiert: Es heisst, die griechische Regierung habe die Flüchtlingswelle nicht richtig im Griff. Ist diese Kritik begründet?
Eine Flüchtlingskrise solchen Ausmasses kann kein Land allein in den Griff bekommen. Kein Staat der Welt verfügt über die nötige Infrastruktur, um eine Million Migranten und Flüchtlinge, die innerhalb eines Jahres an Land kommen, in gerechten, humanitären, raschen Verfahren zu überprüfen und ihrem Profil entsprechend zu versorgen. In Griechenland ist es umso schlimmer, da die fast 14’000 km lange Meeresgrenze nur schwer kontrollierbar ist, und das Land unter einer chronischen, hinreichend bekannten Strukturschwäche leidet.
Das EU-Türkei-Abkommen soll den Flüchtlingsstrom nach Griechenland stoppen, es kommen aber trotzdem Menschen, die meist weiter nach Deutschland wollen. Warum?
Erstens sind die Menschen verzweifelt. Die meisten sind vor furchtbaren Ereignissen, Angst und Zerstörung geflüchtet. Sie klammern sich an jeden Hoffnungsschimmer, um sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Zweitens haben ja schon viele Verwandte oder zumindest Freunde in Deutschland und wollen zu ihnen. Drittens steht ja kaum eine Alternative zur Verfügung. Über die wenigen attraktiven Möglichkeiten, die es in anderen Ländern gibt, wie zum Beispiel Spanien oder Portugal, sind sie entweder gar nicht, oder nicht ausreichend informiert. Die Situation ist chaotisch. Aus Mangel an besseren Informationen handeln die Menschen aufgrund von Gerüchten.
Was hat Sie dazu gebracht, einen offenen Protestbrief an die österreichische Regierung wegen ihrer Flüchtlingspolitik zu unterschreiben?
Angesichts der humanitären Katastrophe im Land und der noch hinzukommenden Flüchtlingskrise konnten wir – Regina Wiesinger, Lehrerin für Geschichte und Ethik an der Deutschen Schule in Athen und Winfried Lechner, Professor für Linguistik an der Universität Athen –, nicht einfach wegschauen. Es war in unseren Augen zynisch, unfair und arrogant, wenn der österreichische Aussenminister selbstgefällig die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge im letzten Jahr als völlig eigenständige österreichische Leistung ohne europäische und internationale Hilfe im Vergleich zu Griechenland hervorhebt. Österreich ist eines der reichsten Länder der Erde. Erfreulicherweise haben sich viele unserer Landsleute in Griechenland uns angeschlossen. Insgesamt haben fast dreissig unterschrieben.
Ihr Brief ist auch Noam Chomsky in den Händen gekommen. Wie fand er ihn?
Er kommentierte in einer Email: «Ausgezeichneter Brief. Die ganze Geschichte ist empörend. Österreich, ein reiches Land, stöhnt unter der Last von Flüchtlingen, die ein Prozent seiner Bevölkerung beträgt. Schwedens Flüchtlingsbevölkerung beträgt 0,5 Prozent. In fast allen anderen Länder schaut es noch schlimmer aus. Im Libanon, einem armen Land voller Probleme, ist der Bevölkerungsanteil von syrischen Flüchtlingen 25 Prozent, und dazu kommen noch irakische Flüchtlinge und Palästinenser aus früheren Flüchtlingsströmen. So ist es auch in Jordanien. Und so war es auch in Syrien, vor seiner Selbstzerstörung. Die Zahlen über die USA sind noch beschämender.»