Das Flüchtlingsdrama auch nur ein bisschen verstehen? Zwei Tage Athen reichen

Um das ganze Flüchtlingselend zu verstehen, muss man es gesehen und erlebt haben. Die Schauspielerin und Theaterschaffende Anina Jendreyko war Ende Februar in Athen. Ein Erlebnisbericht.

(Bild: Anina Jendreyko )

Um das ganze Flüchtlingselend zu verstehen, muss man es gesehen und erlebt haben. Die Schauspielerin und Theaterschaffende Anina Jendreyko war Ende Februar in Athen. Ein Erlebnisbericht, der bereits im Flugzeug beginnt.

Vermutlich ist gerade Kroatien unter mir. Seltsam über die Länder zu fliegen, durch die gleichzeitig Flüchtlinge in umgekehrter Richtung ziehen. Während sie vor Krieg und Gewalt fliehen, entfliehe ich für einige Tage der Haltung der Schweiz, die (fast) immer auf Distanz bleibt. Ich will einige Tage in die Wirklichkeit eintauchen.

Früh morgens unterwegs mit der «Ilektriko» zum Hafen. Piräus erwacht. Dem Pier entlang kommen mir Gruppen von jeweils sechs bis fünfzehn Menschen entgegen, Frauen und Männer jeden Alters, Säuglinge im Arm, Kinder auf den Schultern oder an der Hand, auf dem Rücken ein Rucksack, eine zusammengerollte Wolldecke oder einen Schlafsack in der Hand. Flüchtlinge.

Auch die Basler Flüchtlingshelfer von Be Aware And Share sind in Griechenland unterwegs. Hier geht es zur Reportage.

Jene mit roten oder blauen Stoffrucksäcken mit dem Aufdruck «Samariterbund» oder «Caritas» haben ihre gesamten Habseligkeiten auf der Flucht verloren. Zielstrebig sind die Schritte – aber wohin gehen sie? Ich frage. «Mazedonien und dann weiter nach Deutschland.» Alle zeigen in die gleiche Richtung: nach Norden.

Ein neuer Bus hält an. Leute mit Rucksäcken oder Rollkoffer. Die mit Rollkoffer sind GriechInnen, die andern Flüchtlinge. Die Kleidung der Jugendlichen unterscheidet sich kaum, man erkennt die Geflohenen nur an den Decken.




(Bild: Anina Jendreyko )


Zwei Tage später ist die Situation am Hafen noch prekärer. Zwei Fähren mit fast tausend Schutzsuchenden kommen an. Ich schaue in Gesichter voller Hoffnung, von Kindern die Klatschspiele machen. Auf Wolldecken sitzen ganze Familien, Grosseltern, Eltern, Geschwister, Kinder. Ich schäme mich zu fotografieren – Kapital zu schlagen aus ihrer Flucht.

Früh morgens auf dem Viktoriaplatz. Viele der vorübergehend in Athen gestrandeten Flüchtlinge schlafen noch unter den Wolldecken. Andere sitzen in Gruppen zusammen, Kinder werden unter Tüchern an die Brust gelegt. Mit dem Erwachen der Stadt kommen immer mehr neue Flüchtlingsgruppen, meist Familien.

Im Zehnminutentakt spuckt die Rolltreppe die mit der U-Bahn ankommenden PendlerInnen auf den Platz. Flüchtlinge können sich keine U-Bahn leisten. Sie durchqueren die Stadt zu Fuss oder per Bus. Der Viktoriaplatz ist zu einem Treffpunkt für Menschen aus Afghanistan geworden. Ab und zu gibt es freudige Begrüssungsszenen.

Ich spreche eine Familie mit zwei Töchtern und zwei kleineren Kindern an. Eine der Töchter kann etwas Englisch. In der Türkei warteten sie mehrere Tage in einem Wald. Plötzlich kamen bewaffnete Soldaten und schrien: «Los, los, los!» Am Ufer standen einige Boote. Unter vorgehaltenen Waffen rannten sie hin. In das Schlauchboot für 40 wurden 58 Personen gezwängt. Die Flüchtlinge mussten Gepäck über Bord werfen. Die Tante blieb zurück. So geht es wohl auch vielen Kindern, die ihre Eltern verlieren, höre ich immer wieder.

Eine Griechin kommt vorbei und verteilt Sesamkringel aus einem grossen Sack. Bald darauf kommen weitere Frauen mit Brot, Käse und Früchten sowie mit Shampoo und Duschgel. Aber wo können sich die Schutzsuchenden waschen?




(Bild: Anina Jendreyko )

Auf dem Platz teilen sich Familien einen Platz von der Grösse einer Wolldecke –Zufallsgemeinschaften. Am Ausgang der U-Bahn bei den Rolltreppen richtet sich eine Gruppe junger Griechinnen ein. Mir ist unklar, was sie da machen. Einige Fernsehteams tauchen auf.

Ich weiss nicht viel über Afghanistan. Auf meine Frage, warum sie ihre Heimat verlassen haben, antworten die AfghanInnen mit einer Geste: Ihre Hand fährt über den Hals – Kopf ab. Die meisten der Schutzsuchenden aus Afghanistan hier sind Schiiten. Viele kommen aus der Gegend von Kundus. Die Stadt ist von den sunnitischen Taliban eingenommen worden. Im vergangenen Oktober haben die Amerikaner dort ein Krankenhaus von «Ärzte ohne Grenzen» (MSF) bombardiert. 42 Personen starben, viele wurden verletzt.

Der Platz ist mittlerweile erwacht. Es wird gefegt, Decken werden ausgeschüttelt und die Abfälle zu den aufgestellten Mülltonnen gebracht. Der Platz wird sauber gehalten. Er ist die Bleibe der Flüchtlinge, wenn auch nur vorübergehend. Die meisten bleiben ein bis drei Nächte, aber jetzt ist das anders.

Mehdiliidri, ein Mann um die 30 aus Ghazni Jaguri, der gut Englisch spricht, erzählt: «Auf dem Weg nach Mazedonien wurden wir gestoppt und nach Athen zurückgebracht. Nur Leute aus dem Irak und aus Syrien werden durchgelassen.» Mehdiliidri ist seit drei Monaten unterwegs. «Ich bin Schiit und habe wie viele andere auch bei den amerikanischen Soldaten gearbeitet, weil ich keine andere Arbeit finden konnte. Aber deswegen ist es für uns jetzt lebensgefährlich. Die amerikanischen Soldaten haben mir geholfen, das Land zu verlassen.»

Die Gefahr geht von den Taliban und dem IS (beide Sunniten) aus. Die Schiiten sind an ihren Namen zu erkennen. «Ich kam über den Iran in die Türkei und von dort mit dem Schiff nach Griechenland. Ich möchte gerne nach Finnland, aber die Grenzen sind zu. Die Situation in Afghanistan unterscheidet sich kaum von jener im Irak und Syrien, seit vielen, vielen Jahren herrscht Krieg.»

Dann fragt er mich:

«Warum will man uns zurückschicken? Jeder möchte doch in Frieden leben. Wenn es nicht lebensgefährlich wäre, würde ich mein Land niemals verlassen, zu gross sind der Schmerz und der innere Verlust. 2006 flog ich nach England, aber ich kehrte zurück, weil ich dort nicht leben konnte. Aber jetzt habe ich keine andere Wahl: ich musste weg. Ich habe meine Familie zurückgelassen und hoffe, sie nachholen zu können. Du kannst dir nicht vorstellen, was es bedeutet, von der Türkei nach Griechenland überzusetzen. Die Schlepper haben Waffen. Wenn du nicht gehst, schiessen sie. Ich habe ertrunkene Kinder gesehen – Bilder, die ich nicht vergessen kann. Die Gefahren nimmst du auf dich, weil du denkst, du hättest auch ein Anrecht, in Frieden zu leben. Ich habe niemals Leute in meinem Land in einer solchen Situation gesehen wie jetzt hier. Menschen, die ohne irgendetwas dasitzen – ohne irgendetwas. Du kannst es dir nicht vorstellen.»

Ich kann es wirklich nicht. Welche Situation mitten in Europa wäre vergleichbar? Keine. «Soll ich ihn zum Kaffee einladen?», schiesst mir durch den Kopf. Ich bin unsicher, komme mir bescheuert vor. Und was mache ich mit allen anderen? Ich bleibe stehen, Mehdiliidri erzählt weiter.

«Vorgestern hörte ich, dass Menschen zurück nach Kabul geschickt wurden – das ist unmenschlich! Ich habe viele Freunde in Europa aus der Armeezeit in Afghanistan, bestimmt 20 Freunde in Deutschland, die in Afghanistan stationiert waren. Sie haben mir ein bisschen Deutsch beigebracht. Drei meiner afghanischen Kollegen wurden von den Taliban mit Messern getötet. Die politische Situation in Afghanistan ist sehr kompliziert, schwierig und gefährlich selbst für die staatlichen Behörden. Dafür sind Amerika und europäische Länder verantwortlich, sie haben mein Land zerstört. Sie müssen jetzt eine Lösung finden für uns. Bevor die Amerikaner kamen, war die Situation zwar schlecht und die Menschen waren arm, aber irgendwie wusste sich doch jeder zu helfen, kaum jemand hat sein Land verlassen. Weil ich in den Nato-Strukturen gearbeitet habe, blieb mir als einzige Möglichkeit die Flucht.

Ich möchte einfach einen Platz finden, wo ich bleiben und für meine Familie sorgen kann, in einem Land ohne Krieg, ohne Gefahr. Ich kann mir auch vorstellen, hier in Griechenland zu bleiben. Wenn ich Asylrecht bekomme, kann ich auch meine Familie hierherbringen. Ich muss Arbeit finden, ich arbeite gerne. Aber die Arbeitslosigkeit in Griechenland ist hoch und betrifft auch viele der GriechInnen. Ich habe in den letzten Tagen mit vielen Griechen gesprochen und sie gefragt, wie viel sie verdienen; zwischen 400 und 500 Euro erhalten sie pro Monat. Sie können nur mit so wenig Geld leben, weil sie eigene Wohnungen oder Häuser und Familie haben. Aber ich muss für alles bezahlen, das ist mit 500 Euro nicht zu schaffen. In anderen Ländern wie Deutschland, Holland und den skandinavischen Staaten, bekommst du Hilfe und kannst dir langsam ein Leben aufbauen, die Kinder können zur Schule gehen. Ich habe kein Geld mehr und muss mir sehr gut überlegen, was ich jetzt mache.»

Soll ich zur Bank rennen und Geld abheben, damit Mehdiliidri weiterziehen kann? Und was mache ich mit der Familie, die neben mir sitzt und was mit der nächsten? Ich bin ratlos. Es wäre ein Tropfen, der zischend auf dem heissen Stein verdampft. Aber es geht doch um unmittelbare Hilfe!




(Bild: Anina Jendreyko )

In all den Gesprächen fällt mir immer wieder auf, dass die Schweiz als allfälliges Ziel gar nicht existiert. So nachhaltig ist die Wirkung der jahrelangen Ausgrenzung und Abschottung. Eine Insel unter einer Glaskugel, in die man von aussen kaum hineingelangen kann. Ich schäme mich. Ein Freund von mir arbeitet auf einer Insel in den Fruchtplantagen für 25 Euro am Tag. Fürs Essen zahlt er sechs bis sieben Euro. Wie soll eine Familie von den verbliebenen 18 Euro leben können?

Eine Gruppe von vier Frauen, einem alten Mann und Kindern hat sich zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengefunden, wie sich im Laufe des Gespräches aus einem Mix von Kurdisch, Farsi, Türkisch und Englisch sowie Händen und Füssen herausstellt. Die drei Familien teilen sich den Schlafplatz. Das Schlauchboot, in dem sie alle zusammengepfercht waren, begann zu sinken, als die griechische Inselküste schon gut erkennbar war. Gepäck wurde über Bord geworfen, weil zu viele Menschen im Boot waren. Griechische Fischer kamen ihnen zur Hilfe. «Wir sind Schiiten aus Afghanistan», erzählt die älteste der Frauen, «zwei unserer Männer wurden von den Taliban umgebracht.» Eine jüngere Frau strahlt. «Wir wollen nach Germany, dort können wir frei leben. Ich möchte die Schule beenden und dann studieren.» Eine andere fügt hinzu: «Wir sind geflohen und haben alles zurückgelassen. Wir wollen einen Platz finden, wo auch wir in Frieden leben können.»

Sie haben kein Geld mehr und wissen nicht, was sie als nächstes machen sollen. Sie bitten nicht um Geld, obwohl sie nicht einmal mehr Telefonkarten kaufen können. Ich stehe auf und kaufe ein paar Telefonkarten. Mittlerweile habe ich verstanden, was die jungen, weiss gekleideten Griechinnen machen, die etwas verloren herumstehen: sie verkaufen Telefonkarten.

Eigentlich müsste ich mehrere Hundert Karten kaufen, denn wahrscheinlich geht es allen der fast 800 Leute auf dem Platz gleich. Während wir Telefonnummern austauschen, kommen neue mit Decken und Schlafsäcken bepackte kleine Karawanen auf den Platz, andere verlassen ihn. Wohin? Ich weiss es nicht.




(Bild: Anina Jendreyko )

Zum Abschluss frage ich, ob ich fotografieren darf. Nicht alle wollen aufs Foto, aber es ist eines der wenigen Male, wo die Frauen nicht wegschauen, sich nicht bedecken. Erneut frage ich mich, was das soll. Kapital schlagen aus der Situation und dann in der Schweiz die Fotos zeigen?

Mir fällt auf, dass sehr viele Frauen und kleine Kinder auf dem Platz sind. Die jungen Männer bilden heute nicht die Mehrheit. Vielleicht sind sie mobiler und machen sich schneller auf den Weg, aber wohin? Niemand möchte in Griechenland bleiben, alle wollen weiter. Doch in den Nächten ist es immer noch kalt. Hier gibt es wenigstens Decken und StadtbewohnerInnen bringen Essen und Waschutensilien vorbei.

Entlang der Autobahnen laufen die Menschen Richtung Norden. Den ganzen Tag flimmern auf allen griechischen Kanälen dieselben Bilder über den Schirm. Überall und pausenlos wird debattiert und diskutiert. Mittlerweile hat sich ein Rückstau von vielen Tausend Menschen gebildet, die alle nach Europa wollen und täglich kommen von Südosten her neue Flüchtlingsströme ins Land.

Griechenland ist vollkommen überfordert. Es gibt keine Aufnahmekapazitäten mehr. Was leer steht, ist belegt, der alte Flughafen, Turnhallen, Fähren, Lagerhallen. Egal, wo ich ein Gespräch beginne, immer bekomme ich zu hören: «Wir werden von Europa völlig allein gelassen – nicht zum ersten Mal.»




(Bild: Anina Jendreyko )

Am Viktoriaplatz entsteht um die Ecke eine kleine provisorische Krankenstation mit einem Bett. Aufgebaut wird sie von jenen Leuten, die in den kostenlosen Gesundheitsstrukturen arbeiten, die allermeisten sind Frauen. Am Nachmittag bin ich dort. Medikamentenausgabe: die Schlange der wartenden Menschen zieht sich über drei Stockwerke.

Die Gesundheitszentren wurden 2011 von einigen Frauen gegründet, 15 sind es mittlerweile in Athen und Umgebung, 52 in ganz Griechenland. Hier in der Nähe des Omoniaplatzes steht die Station während fünf Tagen in der Woche allen offen, die keine Krankenversicherung mehr haben oder sich keine Medikamente und Arztbesuche mehr leisten können. Es sind viele. 60 Prozent der Patienten sind GriechInnen, 40 MigrantInnen.

Die Struktur ist auch in den Flüchtlingscamps aktiv und versorgt diese sowohl mit Medikamenten als auch mit ärztlicher Hilfe. Alles läuft ohne Geld. Mit Spenden aus westeuropäischen Ländern wird das Benötigte eingekauft, der Staat übernimmt die Miete sowie die Wasser- und Stromversorgung der Krankenstation. Auch Medikamente und Apparaturen werden gespendet. 38 Ärzte – zwei Pensionierte, die anderen im Schichtbetrieb – und 40 HelferInnen arbeiten hier. In der Gesundheitsstation gibt es zwei Zahnarztpraxen, Kinder-, Frauen- und Allgemeinpraxen sowie Psychologen und Psychiater.




(Bild: Anina Jendreyko )

Im Hinterzimmer sortieren fünf Frauen Medikamente und stellen die Bestelllisten zusammen. An der Theke stehen drei Apothekerinnen, die in ihrer Mittagspause hier helfen. Namen werden nacheinander aufgerufen, Medikamente abgegeben und von einer Frau im Computer notiert. Manchmal werde laut gestritten, weil sich jemand über die lange Wartezeit beschwert, dann gelacht und weitergemacht.

Eine der Gründerinnen war bis 2011 eine angesehene Galeristin. Als die Krise begann, schloss sie ihre Galerie und stellt seither ihre ganze Schaffenskraft dieser «solidarity for all»-Struktur zur Verfügung. Ihr Leben und ihr Bekanntenkreis haben sich von Grund auf geändert. Vielen geht es so. Man spürt den Zusammenhalt unter den Frauen. Eine arbeitet als Gynäkologin in der Geburtsabteilung eines grossen Krankenhauses. Dort öffnet sie die Hintertür und ermöglicht Frauen ohne Versicherung unter ärztlicher Aufsicht zu gebären.

«Warum sind Sie hier?», frage ich eine etwa 55-jährige Frau mit hoch toupiertem, blond gefärbten Haar.

«Ich bin aus Bulgarien und arbeite seit vielen Jahren in Griechenland. Ich habe alte Leute gepflegt, rund um die Uhr. Seit zwei Monaten bin ich arbeitslos. Ich habe erhöhtes Cholesterin und Mangel an Vitamin D. Ich kann die teuren Medikamente nicht bezahlen. Hier bekomme ich sie kostenlos.» Auf meine Frage, woher sie die Station kennt, blickt sie zu ihrer Freundin, die ebenfalls aus Bulgarien kommt und als Hausangestellte arbeitete. «Wir haben in den Häusern jahrelang alte Leute gepflegt – ohne Versicherung. Früher, vor der Krise wurden wir versichert, aber seit der Krise will niemand mehr Hausangestellte versichern, obwohl es obligatorisch ist. Was sollen wir machen? Immer weniger alte Leute können sich die Pflege leisten, die Renten werden gekürzt. Seit zwei Monaten sind wir beide arbeitslos. Jetzt lebe ich von meinen Ersparnissen. 400 Euro habe ich im Monat verdient, 22 Euro pro Tag, bei 24 Stunden Anwesenheit und alle zehn Tage zwölf Stunden frei. Eine Untersuchung beim Arzt kostet 50 Euro – das kann ich mir nicht leisten.»




(Bild: Anina Jendreyko )

 

Abends treffe ich eine Freundin, die seit 35 Jahren in Athen lebt. Sie ist aufgelöst und den Tränen nahe – angesichts der politischen Lage. Im Fernsehen sagt ein anerkannter politischer Wissenschafter: «Was jetzt passiert, erinnert mich an die Dreissigerjahre, ein Land gegen das andere, das Ende der EU. Würden die EU-Länder zusammenhalten, könnte man gut zwei Millionen Schutzsuchendenaufnehmen. Griechenland überlässt man nun sich selbst.»

Wir gehen in eine der Tavernen essen. Die Akropolis ist beleuchtet, die meisten Strassen dagegen dunkel, da die Gelder mehr als knapp sind. Was sind die Möglichkeiten? Wie handeln? Was tun? Unsere Diskussion kreist um die aktuelle Situation. Uns wird klar, dass nur Handeln aus der drohenden Depression führen kann.

Die Regierungen tun so, als wäre alles plötzlich passiert. Wir schauen bis 1979 zurück, um das Heute zu begreifen. Damals zog meine Freundin nach Athen, weltoffen und immer schon an politischen Themen interessiert. In Afghanistan bewaffneten die USA zur selben Zeit die Taliban-Vorläufer gegen die Sowjetunion, die ihre Truppen Ende 1979 dorthin geschickt hatte, um den dortigen Bürgerkrieg zu beenden und ihre Grenzen zu schützen.

Und jetzt, nach über 35 Jahren fliehen Tausende Afghanen nach Griechenland – das ist keine plötzliche Entwicklung. Die Zukunft sieht alles andere als rosig aus. Griechenland droht ein Kollaps, wenn nicht sehr bald etwas passiert. Ministerpräsident Alexis Tsipras wird von allen Seiten angegriffen, als sei er jetzt auch noch verantwortlich für den Flüchtlingsstrom. Das Wasser steht überall bis zum Hals – nein, weiter.




(Bild: Anina Jendreyko )

Am nächsten Morgen gehe ich mit einigen Frauen des Gesundheitszentrums nach Piräus. Auf dem Perron sind Hunderte – nein, Tausende Flüchtlinge, viele Familien, viele Kinder. Es fehlt an allem. Ich habe eine Reisetasche mit Shampoo, Zahnbürsten und Ähnlichem bei mir. Es erscheint mir lächerlich angesichts der Menge von Leuten, aber jedes Stück wird gebraucht.

Es gibt viel praktische Solidarität aus der Bevölkerung. Radiosender rufen dazu auf, Kleider, Essen, und Hygieneartikel zu spenden. In den Supermärkten stehen seit vielen Monaten grosse Kisten, für Lebensmittelspenden. Ich sah immer wieder Leute, auch solche, die offenkundig kaum mehr etwas haben, die zusätzliche Dinge kauften, um sie in die Kiste zu legen.

Unter den Flüchtlingen sind viele Frauen allein mit ihren Kindern, ohne Männer. Diese sind gefallen, verschwunden, vom Krieg verschluckt. Die Frauen tragen ihre Kinder auf dem Arm, halten sie an der Hand, sonst haben sie nichts. «Wir möchten leben können!» Diesen Satz höre ich immer und immer wieder – so einfach – so allumfassend.

Ich rede mit zwei Frauen, die sich mit ihren Kindern eine Decke teilen.

«Wir möchten nach Europa in ein sicheres Land. Nirgendwo in Syrien gibt es einen sicheren Platz zum Leben.» Nebenan sitzt eine andere Familie. «Ich habe in der Türkei gearbeitet, 12 Stunden pro Tag gearbeitet, aber der Verdienst reichte nicht zum Leben. Ich möchte mit unseren drei Kindern und meiner Frau einfach in Frieden leben können und unsere Familie ernähren – nur das.»

Zwei junge Frauen im Alter von 19 und 21 Jahren erzählen mir von ihrer Überfahrt. Sie haben beide ihre Brüder verloren. «Es ist ein Wunder, dass wir noch leben.» Eine andere Familie meint: «Wir haben gut gelebt in Syrien, aber als der Krieg kam, war es wie in einem Gefängnis. Wir hatten keine Wahl, wir mussten fliehen. Nun haben wir nur das, was du hier siehst.» Zum Glück ist es momentan nicht so kalt. Viele, die in der Halle keinen Platz mehr finden, schlafen draussen.




(Bild: Anina Jendreyko )

Auf dem Flug zurück in die Schweiz rechne ich: Für eine Überfahrt verlangen die Schlepper tief gerechnet zwischen 1500 – 2000 Euro – bei 2000 Schutzsuchenden pro Tag – sind dass schon vier Millionen Euro – ohne Schwimmwesten, Essen und und und – wohin fliesst dieses ganze Geld in der Türkei? Wer profitiert von diesen Summen?

Ich komme in Basel an. Nichts weist darauf hin, dass Tausende Menschen auf der Flucht sind. Es gibt keine Berührungspunkte im Alltag, kein Sehen. Nur über die Medien erfährt man, was geschieht. Aber es braucht Begegnungen, um das Ausmass und die Dringlichkeit zu begreifen.

Es gibt gar keine andere Wahl, als endlich und sofort Zehntausende von Flüchtlingen aufzunehmen – ohne dass sie diesen unglaublich langen Weg auf sich nehmen müssen. Jede und jeder ist aufgefordert zu handeln, aber nicht einfach helfen, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Die Handlung muss darüber hinausgehen.

«Mitgefühl und Liebe zu den Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken», sagte schon Oscar Wilde vor hundert Jahren. Natürlich macht es Sinn, unmittelbar zu helfen. Medikamente und Geldspenden sind dringend nötig, aber es dabei zu belassen, wird an der Masse der Flüchtlinge nichts ändern. Solange Leute am Handel mit Waffen und am Krieg verdienen, wird es Flüchtlinge geben.




(Bild: Anina Jendreyko )

Die Gruppe Solidarität mit Griechenland nimmt Spenden entgegen, um Medikamente an die Gesundheitszentren zu schicken. Ebenso wird versucht, einen Krankenwagen so auszustatten, dass er als fahrendes Krankenhaus entlang der Flüchtlingsroute eingesetzt werden kann. Spenden aufs Konto sind willkommen, ebenso ÄrztInnen, die sich einen Einsatz in Griechenland vorstellen können.

SPENDEN: Solidarität mit Griechenland / 3000 Bern / Postcheck Konto Nr: 61-95337-3 / IBAN: CH33-0900 0000 6109 5337 3

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