Im Gare du Nord wurde «Breiviks Erklärung» aufgeführt. Ein Skandal? Nein. Aber ein ganz und gar unangenehmer Theaterabend.
Angenehm ist es nicht, man muss einiges aushalten an diesem Abend im Gare du Nord bei «Breiviks Erklärung». Sich selbst am meisten. Die eigenen Gedanken, die urpersönliche Reaktion. Denn einiges von dem, was Breivik verliest, kennt man. Hat man schon tausendfach gehört, gelesen, gedacht.
Das wirft sogleich die nächste Frage auf: Wer spricht da eigentlich? Am Freitagabend, bei Milo Raus Inszenierung von «Breiviks Erklärung», ist es die deutsch-türkische Schauspielerin Sascha Ö. Soydan. Am 17. April 2012 war es Anders Behring Breivik, als er seine Taten vor dem Osloer Amtsgericht erklären durfte. Breivik hat im Juli 2011 in Oslo insgesamt 77 Menschen umgebracht, ein Grossteil davon waren Jugendliche.
Ein Kind unserer Zeit
Breivik aber war kein origineller Denker, seine Rede besteht aus Versatzstücken verschiedensten Ursprungs. Er bezieht sich auf aktuelle mediale Diskurse: auf die Taten des Nationalsozialistischen Untergrundes, auf das Minarettverbot in der Schweiz, auf die Jobbik in Ungarn. Breivik ist – wie Regisseur Milo Rau später bemerken wird – ein Kind unserer Zeit. In ihn hat sich eingebrannt, was er im Internet und in den Schriften konservativer Nationalisten gelesen hat. Breivik ist Trägermedium einer Ideologie, wie sie in hunderttausenden Köpfen täglich gedacht und in unzähligen Gesprächen überall in der westlichen Welt täglich geäussert wird.
Soydan wiederum ist Trägermedium für den Text Breiviks. Ihr Vortrag sei frei von jeder Inszenierung, betont Rau in der anschliessenden Publikumsdiskussion. Nehmen wir also an, Breivik habe seine Rede genau so gehalten.
Er liest den Text ausgesprochen nüchtern. Oft hält er inne, blickt ins Publikum (Meint er mich?), stellt Fragen die er sogleich beantwortet. Breivik scheint sich selbst zuzuhören, manchmal überrascht von den eigenen Worten. Was er sagt, ist banal. Die Art wie er es sagt, hat etwas Kindliches. «Der indigene Norweger wird zur Minderheit im eigenen Land. Die Geburtenrate der Muslime ist dreimal höher.» (Dieser Videobeitrag von der ARD zeigt weitere Ausschnitte.)
Die Angst, verkannt zu werden
Breivik bedient sich bei nationalistischen Denkern, bei fundamentalistischen Islamistenführern, bei der «English Defence League» und bei der SVP. Er sieht sich als Nationalheld, der von der kulturmarxistisch infiltrierten Medienöffentlichkeit zum Terroristen abgetan werden soll. Aus seinen Zeilen spricht die Angst, verkannt zu werden. Indianerhäuptlinge wie «Sitting Bull» habe man ja auch nicht als Terroristen klassifiziert, sondern als Kämpfer für ihre jeweiligen Völker.
Leider ist es kein hetzerischer Text. Leider fehlt seinem Vortrag jener Wahnwitz, welcher den Inhalt so viel erträglicher machen würde. So aber muss man die Rede einfach aushalten, eineinhalb Stunden lang. Es ist heiss, stickig und eng. Hin und wieder knarrt einer der Holzstühle unter dem Versuch eines Zuschauers, sich Komfort zu verschaffen. Jemand gähnt, jemand flüstert, jemand lacht ein hastiges Lachen.
Soll man da applaudieren?
Breivik kündigt an, sich dem Ende zu nähern. Das Publikum atmet hörbar auf. Breivik endet mit den Worten «und deshalb fordere ich den Freispruch». Das Licht geht an. Soll man jetzt applaudieren? Einige tun es, die meisten nicht.
Bei der anschliessenden Diskussion wird schnell klar: Das Aufatmen kam zu früh. Auch das Gespräch ist unangenehm. Die Redebeiträge lassen vermuten, dass sich im Publikum viele Medienwissenschaftler und Linguisten befinden. Ihre wohlformulierten Analysen der Bühnenanordnung und der Regiearbeit erwecken den Eindruck einer hilflosen Übersprungshandlung, eines Versuchs, dem Schrecken des Banalen auf einer elitären Metaebene gefahrlos begegnen zu können.
Ein älterer Herr schimpft über die «misslungene Theatervorführung» und über den «unglaublich schlechten Text Breiviks». SP-Politikerin Tanja Soland fordert die inhaltliche Auseinandersetzung, fernab vom abstrakten Hochschuldiskurs. Eine aufgebrachte Dame will, dass man sich dem Gehörten emotional aussetzt und seine Gefühle formuliert.
Der Zuschauerraum leert sich zusehends. Viele stehen auf und gehen; und tun damit, was sie wohl während der Lesung schon gerne getan hätten. Die Leistung besteht aber darin, so etwas auszuhalten. «Aushalten», weil es unangenehm ist. Weil «Aushalten» bedeutet, dass man sich – zumindest ansatzweise – damit auseinandersetzt. Und weil eine ernsthafte Auseinandersetzung nur aus einer Haltung stattfinden kann, die die Annahme erlaubt, dass die Gegenseite auch recht haben könnte.