Mit neuen Köpfen ins Wahljahr 2015 – FDP, Grüne, BDP und CVP suchen neue Präsidenten. Sie werden das wichtigste Dossier der kommenden Jahre prägen – die Schweizer Europapolitik.
Philipp Müller wird am 21. April zum 29. Präsidenten der FDP gewählt. Niemand macht ihm diesen Job streitig, denn es geht nicht in erster Linie um Ehre, sondern um Arbeit, um sehr viel Arbeit. Müller soll bewerkstelligen, was seit zwanzig Jahren keiner mehr fertiggebracht hat: den Freisinn auf Wachstumskurs bringen.
Der künftige FDP-Präsident war einer der ersten in der Partei, der sich in den Diskussionen um das Bankgeheimnis mit der Forderung nach einer Weissgeld-Strategie hervorgetan hatte. Das brauchte Mut. Aber es passte zu ihm, hatte er doch schon in der Ausländer- und Asylpolitik Positionen vertreten, die im Freisinn Stirnrunzeln auslösten. Zu forsch, zu dezidiert hatte er Positionen formuliert, die man eher einem SVP-Politiker zutraute.
Heute allerdings kann er mit seiner Forderung nach einem effizienteren und schnelleren Asylverfahren auf den Rückhalt seiner Partei zählen. Zusehends gefallen im Kreis der eher betulich und gepflegt auftretenden FDP auch seine Hemdsärmligkeit, seine schnellen Worte und volksnahen Sprüche.
Der Zeitpunkt seiner Wahl birgt durchaus Chancen: Die SVP ist in mässiger Verfassung, und der Glanz der Mitteparteien BDP und der Grünliberalen verblasst bereits wieder. Hier kann man Wählerprozente zurückerobern. In der Asyl-, Ausländer-, Steuer- oder Finanzpolitik hat Müller klare Vorstellungen. Und in der Europapolitik?
Fordernde EU
Die EU mit ihrem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso verstärkt den Druck auf die Schweiz. Plötzlich passt es der EU-Kommission nicht mehr, dass einzelne Länder wie Grossbritannien oder Deutschland mit der Schweiz Steuerabkommen abschliessen. Lieber hätten sie eine EU-Regelung, die letztlich den automatischen Informationsaustausch zwischen den Schweizer Banken und den Behörden der EU-Staaten gewährleistet. Das heisst: Die Schweizer Banken müssten den Steuerbehörden der EU-Länder Einblick in die Konten ihrer Bürger gewähren.
Weiter: Die EU will, dass die Schweiz in allen Bereichen, welche die bilateralen Verträge umfassen, jede Gesetzesänderung aus Brüssel umsetzt. Mehr noch: Falls es zu Zwistigkeiten zwischen der Schweiz und der EU kommt, müsse die Schweiz Entscheide eines gemeinsamen Gerichtshofes akzeptieren.
Mit all diesen Forderungen ist die Schweiz, ist der Bundesrat konfrontiert. Und da die EU ein wichtiger Partner ist, gilt es, diese Forderungen zumindest ernst zu nehmen. Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf hat an ihrem letzten Treffen mit Kommissionspräsident Barroso vor zwei Wochen bekräftigt, dass die Schweiz konstruktive Vorschläge für die Lösung der anstehenden Probleme vorlegen werde.
Müller hält sich zurück
Erhält sie, erhält der Bundesrat von der FDP mit ihrem kommenden Präsidenten in dieser Sache Unterstützung? Philipp Müller markiert Zurückhaltung. Er ist sich zwar der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Exportwirtschaft vom Ausland durchaus bewusst, wenn er sagt, dass die Schweiz den Lebensunterhalt im Inland, den Wohlstand aber im Ausland verdiene. Auch in der EU. Aber gegenüber den Forderungen aus Brüssel zeigt er sich unnachgiebig.
«Man hat den bilateralen Weg schon vor Jahren totgesagt. Und wir gehen ihn immer noch. Er ist der pragmatische Weg», sagt er. Bei den Amtshilfebestimmungen in den Doppelbesteuerungsabkommen sei es so, dass sie den Kriterien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) entsprechen. Deshalb könne sie die Schweiz selbstbewusst übernehmen und müsse nicht auf Sonderwünsche der EU eingehen. «Wenn die Deutschen das ausgehandelte Abkommen jetzt plötzlich zurückweisen, dann müssen sie eben auf den ‹Stutz› verzichten, der ihnen zugesichert ist.»
Dass die Schweiz automatisch EU-Recht übernehmen soll, hält Müller für eines souveränen Rechtsstaates unwürdig. «Wir haben bestehende Verträge mit der EU, die bilateralen Verträge. Sie gelten und können nicht im Nachhinein einseitig abgeändert werden. Ausser wir wollen zusätzliche, neue Verträge aushandeln. Aber der Preis dafür darf nicht eine dynamische Rechtsübernahme sein.»
Die Schweiz könne letztlich auch ohne ein Stromabkommen leben, ohne ein Landwirtschaftsabkommen. «Wenn solche Abkommen nur unter der Bedingung auszuhandeln sind, dass wir EU-Recht ohne Mitsprache übernehmen sollen, dann sollten wir darauf verzichten. Sonst könnten wir geradeso gut wieder in EWR-Verhandlungen eintreten.» Von der FDP-Spitze ist für die «konstruktiven Vorschläge» des Bundesrates also wenig Entgegenkommen bei den EU-Forderungen zu erwarten. Man beharrt auf dem schweizerisch selbstbewussten Weg.
Weg der CVP ist festgelegt
Beharrt wird auch links von der FDP. Die CVP steht noch etwas weiter entfernt von einem Präsidentenwechsel als die Freisinnigen: Im «Verlauf der nächsten Jahre» soll die Parteispitze um Präsident Christophe Darbellay und Fraktionschef Urs Schwaller abgelöst werden.
Redet man mit Urs Schwaller über Europa, dann scheint der Weg der CVP aber bereits heute über Jahre festgelegt. Konsequent müsse man sein, konsequent und klar. «Mir macht es Sorgen, wenn wir die Strategie immer wieder kurzfristig ändern. Das macht uns unglaubwürdig.»
Es gebe keinen Grund, dem stärker werdenden Druck nachzugeben. Schwaller ist nämlich optimistisch. Sollte es der Schweiz in absehbarer Zeit gelingen, im Finanzdossier mit der EU eine Einigung zu erzielen, werde das eine Entkrampfung der gesamten Beziehungen mit sich bringen.
Als Mitglied der Parlamentarierdelegation im Europarat hat Schwaller ein gewisses Sensorium für die Befindlichkeit in der EU. Vom ganzen Finanzbereich abgesehen, höre man wenig und wenig Schlechtes über die anderen Themen in der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Schweiz. «Darum denke ich, dass eine Flucht nach vorne oder vorauseilende Zugeständnisse nicht nötig sind.»
BDP hält zu ihrer Bundesrätin
Etwas weniger deutlich grenzt sich Martin Landolt, der designierte Nachfolger von Hans Grunder an der Spitze der BDP, von den Bemühungen der Schweiz in Brüssel ab. Es ist ja auch seine Bundesrätin, die Existenzberechtigung der Kleinpartei, die das Problemdossier federführend betreut. Er sagt: «Wir haben nur zwei Alternativen. Beitritt oder Isolation. Wir wollen beides nicht.»
Landolt und mit ihm auch Nationalrätin Ursula Haller, ein Schwergewicht in der kleinen Partei, erinnern an die Stimmung in der Bevölkerung. Und die verhindere eine Annäherung an Europa über Jahre hinaus. Es ist diese Grundstimmung, die die SVP am konsequentesten abbildet und die SP – mit einigen Ausnahmen – daran hindert, offensiver auf einen Beitritt in die EU zu drängen.
Während bei der SVP und der SP die Parteispitze und deren Ausrichtung in den nächsten Jahren kaum ändern wird, könnte es bei den Grünen am 21. April in die eine oder andere Richtung kippen. Gleich sieben Kandidatinnen und Kandidaten bewerben sich um die Nachfolge von Parteipräsident Ueli Leuenberger.
«In der Europa-Frage ist die Haltung der Partei klar», sagt Generalsekretärin Miriam Behrens. «Das System mit den bilateralen Verträgen geht dem Ende entgegen.» Im Moment sei es sicher nicht opportun, den Beitritt zu propagieren. Aber über kurz oder lang werde die Schweiz nicht darum herumkommen, EU-Recht zu übernehmen. Und dies sei nur akzeptabel, wenn man dieses Recht auch mitbestimmen könne – als EU-Mitglied.
«Reinstes Harakiri»
Das sieht nach einer künftigen EU-Offensive der Grünen aus. Doch halt! Einer der sieben Kandidaten fürs Grüne Präsidium, der Aargauer Aussenpolitiker Geri Müller, relativiert: «Ein Plädoyer für den EU-Beitritt wäre reinstes Harakiri.» Der bilaterale Weg sei nach wie vor der richtige, es gebe immer noch Verhandlungsspielraum. Die Empörung von EU-Kommissar Barroso über die Schweiz werde in den Medien hochgespielt – die Schweiz sei für die EU gar nicht so wichtig.
Und so ist selbst bei den Grünen nur eine Strategie im Hinblick auf die EU zu erkennen – der fragile Status quo. Am liebsten für die nächsten Jahrzehnte.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.03.12