Mehr als 150 000 Syrier sind nach Ägypten geflüchtet. Der Grossteil versucht sich im Millionen-Moloch Kairo durchzuschlagen; viele mit Schwarzarbeit. Die Ärmsten erhalten jetzt erstmals Lebensmittelgutscheine von der UN.
«Klein-Damaskus» nennen die Ägypter die Gegend um die al-Hossari-Moschee in der Satelliten-Stadt «6. Oktober», 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Im Imbiss «Seele von Damaskus» schmecken die Gerichte genauso wie an einer Strassenecke in der syrischen Hauptstadt. Köche und Kellner sind Syrer und auch fast alle Gäste. Sie fallen auf durch ihren Dialekt; viele Frauen auch durch ihre Kleidung, etwa die Art wie sie ihre Kopftücher binden.
Psychologische Hilfe gefragt
Der überwiegende Teil der Syrer, die seit Beginn des Aufstandes vor fast zwei Jahren nach Kairo geflohen sind, haben sich für den Stadtteil 6. Oktober entschieden. In diesem Neubaugebiet gibt es leere Wohnungen, die Mieten sind günstiger und alle Dienstleistungen vorhanden. Auch die meisten der zwei Dutzend Hilfsorganisationen, die sich um syrische Flüchtlinge kümmern, haben sich hier niedergelassen.
Vor wenigen Wochen hat das Tadamon-Zentrum in einem der vielen gesichtslosen Wohnblocks seine Türen geöffnet. Es solle vor allem Begegnungsstätte sein, die verlorene Nachbarschaft ersetzen und das soziale Geflecht im Exil erhalten, sagt die Initiantin Naziq al-Abed im Gespräch.
Das Assad-Regime wirkt nach
In einem Mal- und Knet-Kurs toben sich ein Dutzend Kinder unter Anleitung eines Dozenten für Kindertheater aus. Sie haben keine Scheu vor der Kamera im Gegensatz zu ihren Eltern. Die Angst vor Verfolgung durch Anhänger des Assad-Regimes wirkt auch hier nach. Die Mutter eines kleinen Mädchens wird von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie braucht bis zum Abend eine neue Bleibe. Das ist aber nur der letzte Episode einer langen Leidensgeschichte. 2500 Pfund, etwa 380 Dollar, kostet hier ein geräumiges 4-Zimmer-Appartment, das sich mehrere Familien teilen.
Wohnung und Arbeit, das sind die drängendsten Probleme. An der Pinnwand hängen Job-Angebote. «Die Syrer machen das, was die Ägypter nicht oder nicht gut machen; arbeiten als Handwerker, Frauen kochen und putzen», weiss Abed. Drei Studenten suchen IT-Jobs, einer von ihnen ist schwer depressiv.
Die Lage hat sich in den letzten Monaten zusehends verschlimmert. Der Zustrom schwillt an. Drei Viertel sind Frauen und Kinder. Es kommen viele Familien, die inzwischen kein Geld mehr haben. Manche waren zuvor in Jordanien und die Tatsache, dass kein Ende des Konfliktes in Sicht ist, belastet Geldbeutel und Gemüt schwer. Psychologische Hilfe ist deshalb ganz besonders gefragt.
Offene Türen in Ägypten
Ägypten ist eines der wenigen Länder in der Region, das von Flüchtlingen nicht verlangt, dass sie in Lagern leben. Kairo ist weltweit eine der Städte mir der grössten Zahl an urbanen Flüchtlingen. Die Syrer brauchen für Ägypten kein Visum und Präsident Mohammed Morsi hat vor einige Monaten angekündigt, dass jene, die bei der UN registriert sind, ihre Kinder in die Schule schicken können und die staatlichen Spitäler auch für sie gratis sind.
Wie gross ihre Zahl genau ist, weiss niemand. Die UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) sprach schon im vergangenen Oktober von 150’000. In den letzten Monaten sind Tausende dazu gekommen. Gedrosselt wird ihr Zustrom lediglich durch die vom Kriegsgeschehen immer stärken eingeschränkten Transportmöglichkeiten.
Bei der UNHCR registriert sind – mit einer schnell steigenden Tendenz in den letzten Wochen – nur etwas über 18’200 syrische Flüchtlinge. Die Gründe sind vielfältig. Die Angst, ihre Daten könnten zum Assad-Regime gelangen, ist der wichtigste. Abed, die gerade wieder versucht einer Familie, die auf dem Flughafen gestrandet ist, eine Notunterkunft zu besorgen, drängt darauf, dass die Flüchtlinge den Weg zum UNHCR gehen. Nur so könnten die Bedürfnisse erfasst und die Hilfe organisiert werden. Vor wenigen Tagen hat das Word Food Programm (WFP) erstmals begonnen, Lebensmittelgutscheine an 7’000 Bedürftige zu verteilen. Bis Juni werde die Zahl der Begünstigten auf 30’000 steigen, schätzt das WFP.
Syrische Süssigkeiten als Verkaufsschlager
Obwohl Ägypten mitten in einer Wirtschaftskrise steckt, loben viele Syrer in Kairo die Hilfsbereitschaft der Ägypter. «Sie sind unsere Brüder. Wir stehen uns nah. Schliesslich hatten wir zwischen 1958 und 1961 einen Staatenbund», erinnert ein Besucher des Tadamon-Zentrums. Neben den günstigeren Lebenshaltungskosten ist das der Hauptgrund für die Wahl des Nillandes als Zufluchtsort.
In einem Wohnquartier in der Stadtmitte geht ein kleiner Junge von Tür zu Tür und nimmt Bestellungen für syrische Gerichte auf, die seine Mutter kocht. Die Ägypter mögen die syrische Küche und das Gebäck mit vielen Pistazien. Mohammed Hasoum hat daraus eine Geschäftsidee entwickelt. Unterstützt von privaten Spendengeldern aus Deutschland hat er eine Bäckerei eingerichtet, in der 18 Angestellte, fast alle aus Homs, viele von ihnen gelernte Bäcker, syrische Süssigkeiten produzieren. Der Erfolg war so durchschlagend, dass eine grössere Produktionsanlage im Bau ist. Mehrere Hundert Personen werden durch diese Initiative unterstützt.
Schwarzarbeit als Überlebenshilfe
Eine offizielle Genehmigung hat Hasoum nicht. «Das haben die ägyptischen Bäckereien auch nicht. Da kommt einer vom Amt, nimmt 1’000 Pfund und einige Süssigkeiten und die Sache ist erledigt», schildert er seine Erfahrungen. Ein ansehnlicher Teil der ägyptischen Wirtschaft ist nicht registriert, also schwarz und bietet damit auch vielen Flüchtlingen die Möglichkeit, ihr Überleben irgendwie zu sichern.