Vor Abstimmungen benutzt der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse immer wieder dasselbe Argument: Firmen wandern ins Ausland ab, wenn nicht im Sinne der Ökonomie gestimmt wird. Mal gegen links, mal gegen rechts. Die Glaubwürdigkeit leidet darunter.
Urban, weltoffen, zukunftsorientiert: So präsentierte sich die Gesellschaft für eine offene und moderne Schweiz (GomS) bis vor Kurzem. Die Bürgerbewegung veranstaltete spontane Aktionen und Konzerte gegen die Masseneinwanderungsinitiative der SVP und hatte bald mehrere Tausend Freunde auf Facebook. Doch nun steht die GomS in der Kritik. Der Vorwurf: mangelnde Transparenz.
Denn seit die GomS-Veramstalter vor einigen Tagen zugegeben haben, dass die Gruppe Geld vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse erhält, wütet im Netz ein Shitstorm. Für die Economiesuisse ist die Gruppe eine ideale Plattform, um für ihr Anliegen linke Wählerkreise zu erschliessen, die der Wirtschaft nicht nahestehen. Dass der Geldfluss bis vor Kurzem im Dunklen blieb, dürfte dem Wirtschaftsverband nur recht gewesen sein. Doch die Economiesuisse agiert nicht nur verdeckt gegen die SVP-Initiative. Sie sucht auch die grosse Bühne.
Forte für die Freizügigkeit
Vor einigen Wochen lud die Economiesuisse ins Berner Nobelhotel Bellevue. Drinnen, hinter schweren, verspiegelten Flügeltüren, präsentierte Jan Atteslander, Leiter Aussenwirtschaft, ein wissenschaftliches Gutachten zu den «fatalen» Auswirkungen, die eine Annahme der SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» auf den Arbeitsplatz Schweiz hätte. Sein Arbeitgeber, die Economiesuisse, hatte es bei der Uni Genf in Auftrag gegeben.
Begleitet wurde Atteslander von einer Wissenschaftlerin, der Genfer Rechtsprofessorin Christine Kaddous, und dem Unternehmer Josef Maushart. Die Namen schienen aber kaum eine Rolle zu spielen, die beiden waren austauschbar. Die Wissenschaftlerin sollte den präsentierten Vermutungen Glaubwürdigkeit verleihen, der Unternehmer mit Abwanderung drohen.
Stimmt das Schweizer Stimmvolk nicht im Sinne der Wirtschaft ab, dann ziehen die Firmen weg – behauptet Economiesuisse.
Jan Atteslander weiss, wie man einen Abstimmungskampf orchestrieren muss. Im «Bellevue» liess er seine Begleiter die erste Geige spielen, unisono und forte. Er blieb als heimlicher Dirigent im Hintergrund und liess seine Interpreten die wichtigste und bekannteste Sinfonie der Economiesuisse spielen – jene von der drohenden Abwanderung der Wirtschaft. Das immer wiederkehrende Thema: Stimmt das Schweizer Stimmvolk nicht im Sinne der Wirtschaft ab, dann ziehen die Firmen weg ins Ausland. Vor der Abstimmung zur 1:12-Vorlage der Juso im November hörte der Stimmbürger dieselben Töne, wie er es vor der Abstimmung zur Ecopop-Initiative auch wieder hören wird. Und im Moment wird gerade der Abgesang auf die SVP-Masseneinwanderungsinitiative intoniert.
Ein wissenschaftliches Nein
Die Economiesuisse vertritt die grössten und finanzstärksten Unternehmen des Landes. Der Stromgigant Axpo gehört ebenso selbstverständlich zur Klientel wie Nestlé oder die beiden Basler Pharma-Multis. Insgesamt sind es nach eigenen Angaben über 100’000 Firmen mit zwei Millionen Arbeitsplätzen. Und diese Unternehmen haben kein Interesse an einer Annahme der SVP-Initiative. Sie brauchen die Arbeitskräfte aus dem Ausland. Und sie wollen das Geld aus dem Ausland. Beides stünde auf dem Spiel, wenn am 9. Februar die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» angenommen würde, behaupten die Gegner der Vorlage.
Im «Bellevue» in Bern erklärte die Wissenschaftlerin zu Atteslanders Linken, Christine Kaddous, wie sie das Gleichbehandlungsprinzip untersucht hat. Sie beschrieb die allgemeine Schutzklausel und das Freizügigkeitsabkommen, besser bekannt unter dem Stichwort der Personenfreizügigkeit. Das Fazit ihrer Studie: Eine Annahme der SVP-Initiative wäre «unvereinbar» mit der Personenfreizügigkeit. Für Jan Atteslander wäre sie schlicht «ein Schock für unsere Europapolitik». Die Harmonie zwischen Wissenschaft und Wirtschaftslobby ist perfekt. Beinahe geht vergessen, wer die Studie und den frisch gepressten Orangensaft am Buffet bezahlt hat.
«Mit Sicherheit» verlagern
Der Unternehmer Josef Maushart zu Atteslanders Rechten erklärte in der Folge, dass er sein europäisches Logistikzentrum im Kanton Solothurn nicht mehr werde weiterbetreiben können, sollte die Initiative angenommen werde. Dabei spiele es noch nicht einmal eine Rolle, ob die EU die Bilateralen tatsächlich aufkündigt. Alleine die Unsicherheit über den Weiterbestand der EU-Verträge würde reichen, um einen Teil des Unternehmens «mit Sicherheit» zu verlagern.
Das ist eine handfeste Drohung. Es heisst nichts anderes als: Bei einem Ja verschwinden wir, und mit uns Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Das Problem der Economiesuisse ist, dass sie dieses Argument immer wieder vorbringt. Bei der 1:12-Initiative erfolgreich, bei der Minder-Initiative, die eine Beschränkung der Manager-Gehälter forderte, weniger erfolgreich. Von einem Debakel war nach der Abstimmung die Rede. Und die Folgen? Sind die Firmen nach verlorener Abstimmung abgewandert? Die Antwort auf die Frage ist zumindest weniger klar als die Ansage.
Kaum Zahlen verfügbar
«Die Economiesuisse führt keine Statistik über die ihren Mitgliedern angeschlossenen Unternehmen», erklärt Thomas Pletscher, Mitglied der Geschäftsleitung. Ausserdem sei der regulatorische Rahmen, der durch die Minder-Initiative verändert wurde, nur einer von sechs Schlüsselfaktoren bei Standortentscheiden. Die Economiesuisse kann oder will keine konkreten Zahlen über Abwanderung im letzten Jahr nennen. Für den Politologen Georg Lutz ist indes klar: «Wenn ich eine Drohung ausspreche, muss ich sie grundsätzlich auch wahr machen können.» Wie bei der Erziehung eines Kindes drohe sonst der Verlust der Glaubwürdigkeit.
Schweizer sind bereit, auf sehr viel zu verzichten, wenn sie die Wirtschaft in Gefahr sehen.
Nachdem der Unternehmer Maushart in Bern fertig gesprochen hatte, gab Jan Atteslander Interviews. Mit ruhiger Stimme fegte er die Vorwürfe vom weiss gedeckten Stehtisch: «Wir drohen nicht. Wir wollen die Fakten auf den Tisch legen und aufzeigen, was bei einer Annahme der SVP-Initiative die Konsequenzen für unseren Wohlstand wären.» Auch jetzt weiss er, was er tut. «Drohungen werden im Abstimmungskampf sehr schlecht aufgenommen», sagt Politologe Georg Lutz. Eine Warnung verkauft sich da besser. «Schweizerinnen und Schweizer sind bereit, auf sehr viel zu verzichten, wenn sie die Wirtschaft in Gefahr sehen.» Die abgelehnte Initiative für sechs Wochen Ferien sei das beste Beispiel dafür.
Teure Kampagne
Für die Economiesuisse ist die kommende Abstimmung wichtiger als vorangehende Wirtschaftsvorlagen. Im Unterschied zur 1:12-Initiative oder zur Abzocker-Vorlage geht es am 9. Februar zum ersten Mal um mehr als um wirtschaftliche Einschränkungen für die Unternehmen. Fällt am 9. Februar die Personenfreizügigkeit, könnte die EU alle bilateralen Verträge I kündigen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso machte bereits deutlich, dass es ohne die Personenfreizügigkeit keinen bilateralen Weg mit der EU mehr geben werde – mit unabsehbaren Folgen für die hiesige Wirtschaft.
Es erstaunt daher nicht, dass sich die Economiesuisse ihre Kampagne gegen die SVP-Initiative einiges kosten lässt. In den gescheiterten Abstimmungskampf gegen die Minder-Initiative investierte sie rund acht Millionen Franken. Und auch die aktuelle Kampagne dürfte weit oben auf der Prioritätenliste stehen, wie zahlreiche Aktionen und Engagements zeigen. Jüngst hat die Economiesuisse ein Spiel für Smartphones lanciert. Alleine dessen Programmierung hat Schätzungen zufolge 30’000 bis 40’000 Franken gekostet. Auf Nachfrage zu den aktuell eingesetzten Summen gibt man sich seitens der Economiesuisse allerdings den verspiegelten Flügeltüren im «Bellevue» entsprechend: verschlossen.
Die bilateralen Verträge I zwischen der Schweiz und der EU traten 2002 in Kraft. Es handelt sich um mehrere Verträge, die über die sogenannte Guillotine-Klausel miteinander verbunden sind: Wird ein Abkommen verletzt, können alle Verträge gekündigt werden. Das Paket enthält Verträge zum öffentlichen Beschaffungswesen (Zugang zu öffentlichen Aufträgen), zu technischen Handelshemmnissen (gleiche Standards), Forschung (Gleichberechtigung der Hochschulen), Landwirtschaft (schrittweise Öffnung des Agrarmarkts) sowie die Abkommen über den Luft- und Landverkehr. 2004 wurden die Bilateralen II unterzeichnet. Sie wären von einer Aufkündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens nicht betroffen.