Das Internet ist nicht kaputt – es erfindet sich nur mal wieder neu

Google will mit Ballons das Internet auf die Erde regnen lassen. Facebook baut sich mit internet.org ein eigenes Netz auf. Was läuft da schief? Nichts. Das Netz erfindet sich nur wieder neu. Und dieses Mal sollten wir da besser mitmachen.

Im Serverraum einer Swisscom-Telefonzentrale: Gibt es hier einen Kurzschluss, kann eine ganze Gemeinde wie Birmensdorf plötzlich offline sein.

(Bild: Basile Bornand)

Google will mit Ballons das Internet auf die Erde regnen lassen. Facebook baut sich mit internet.org ein eigenes Netz auf. Was läuft da schief? Nichts. Das Netz erfindet sich nur wieder neu. Und dieses Mal sollten wir da besser mitmachen.



Im Serverraum einer Swisscom-Telefonzentrale: Gibt es hier einen Kurzschluss, kann eine ganze Gemeinde wie Birmensdorf plötzlich offline sein.

Im Serverraum einer Swisscom-Telefonzentrale: Gibt es hier einen Kurzschluss, kann eine ganze Gemeinde wie Birmensdorf plötzlich offline sein. (Bild: Basile Bornand)

In Birmensdorf gibts kein Internet. Die Gemeinde an der Autobahn zwischen Zürich und Luzern hat seit Tagen keinen Anschluss mehr ans Netz. Heftige Regenfälle haben einen Kurzschluss in der Telefonzentrale der Swisscom verursacht, seither ist in Birmensdorf das Telefon tot und das Internet auch. Im Supermarkt werden die Waren von Hand nachgezählt, mit Kreditkarten zahlen geht nicht mehr, und die Swisscom verteilt mobile Internetzugänge via Handynetz. Reinhard Lässig, Sprecher der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL, fand den Unterbruch persönlich ganz angenehm: «Man kann dadurch ruhiger arbeiten», sagte er gegenüber dem Online-Portal 20minuten.ch. In Birmensdorf, im Herzen der hochtechnologisierten Schweiz, ist das Internet tot. Es ist Montag, 8. Juni 2015.

Zur gleichen Zeit in Menlo Park, Kalifornien: Der Internet-Gigant Facebook arbeitet seit 2013 mit Hochdruck an einem Projekt, mit dem die Firma Internet zu Menschen bringen will, die kein Internet haben – und damit auch keinen Zugang zu Facebook. Das Projekt heisst «internet.org» und klingt wie eine gemeinnützige Aktion engagierter Menschen, die die Situation anderer Menschen verbessern wollen. Doch das Projekt und mit ihm Facebook-Chef Mark Zuckerberg steht massiv in der Kritik. Denn «internet.org» wählt ausschliesslich selbst Anbieter aus und verzichtet ausdrücklich auf eine Verschlüsselung der Daten. 



Da sagte er es schon an, jetzt ist es praktisch spruchreif: internet.org, das Internet wie es Facebook von Mark Zuckerberg sieht.

Da sagte er es schon an, jetzt ist es praktisch spruchreif: internet.org, das Internet wie es Facebook von Mark Zuckerberg sieht. (Bild: Jeff Chiu)

Damit verletze Facebook das Prinzip der Netzneutralität und es entstehe eine Art digitales Ghetto für arme oder benachteiligte Nutzer. «Internet.org ist nicht neutral, nicht sicher und nicht das Internet», schreibt die Electronic Frontier Foundation, eine Organisation, die das freie Internet verteidigen will. Aber: «internet.org» ermöglicht den Zugang zum Netz. Ob sich Facebook dadurch einen Wettbewerbsvorteil verschafft oder nicht, wird die Nutzer kaum interessieren. Hauptsache Internet. Und Facebook.

Die Kolonialisierung ist fast abgeschlossen. Fehlen nur noch die Ballons.

Das klingt ein bisschen nach Kolonialisierung und es ist auch eine. Zogen während Jahrhunderten Staaten in die Welt, um andere Staaten zu knechten – wegen ihrer Rohstoffe, ihrer Arbeitskräfte, ihrer Produkte –, so ziehen jetzt Unternehmen aus, um ihre Vormachtstellung im an sich unendlichen Netz zu festigen. Nicht, um Menschen zu knechten oder Landstriche zu regieren. Doch wo Facebook «internet.org» etablieren kann, hat Facebook die Vormachtstellung für den Zugang zum Internet. 

Es ist wie mit Google, dem anderen Giganten, der damit experimentiert, den physischen Internetzugang mit Google Loon zu den Menschen zu bringen. Ballons sollen von der Stratosphäre aus ein mobiles Datenfunknetz betreiben. Facebook gegen Google: Wer den Zugang zum Netz kontrolliert, der verkörpert gleichsam das Netz. In letzter Konsequenz bleibt er trotz aller wohlformulierten und natürlich meist guten Absichten der Wächter am Tor zur digitalen Welt.



So lasset das Internet vom Himmel regnen: Ein Ballon von Google bei einem Testflug in den Alpen Neuseelands 2013.

So lasset das Internet vom Himmel regnen: Ein Ballon von Google bei einem Testflug in den Alpen Neuseelands 2013. (Bild: John Shenk)

Einer Welt, gefüttert mit Katzenvideos, YouTube-Sternchen, Hotelbewertungen, einer Traumwelt, in der jeder mit einem klugen Start-up reich oder glücklich werden kann. Ein grossartiges Laboratorium für die Selbstverwirklichung oder Monetarisierung von Ideen. Eine Handvoll übermächtiger Internetkonzerne, die in dieser Welt um die wirtschaftliche Vormachtstellung kämpfen. 

Einst waren es Start-ups, die die ganz Grossen mit ihren Geschäftsmodellen unterliefen. Heute sind sie selbst die Giganten und sie schützen sich mit allen Mitteln davor, selbst unterlaufen zu werden: Einkäufe kluger Start-ups, die Durchdringung anderer Branchen wie dem Automobilmarkt, die Expansion im Bereich des Netzzugangs. Denn sie lernten am eigenen Beispiel, wie schieres Wachstum aussehen kann, sie lernten aber auch, wie schnell das Ende kommt. Facebook, Apple und Google sind nur drei der übermächtigen Unternehmen, die den Markt und damit den kommerziellen Teil des Internets zu dominieren lernten. 



Übersicht über die ganz Grossen der Szene – 1995 und 2015. Auszug aus dem «Internet Trend Report 2015» der Beraterfirma KPCB.

Übersicht über die ganz Grossen der Szene – 1995 und 2015. Auszug aus dem «Internet Trend Report 2015» der Beraterfirma KPCB. (Bild: Screenshot www.kpcb.com)

 ¯_(ツ)_/¯ – ein Schulterzucken für Birmensdorf  

In Birmensdorf, der Zürcher Gemeinde ohne Internet, ist es derweil die nationale Telekom-Grundversorgerin Swisscom, die die mobilen Internetzugänge verteilt. Schliesslich haftet sie für den Ausfall vom vergangenen Montag: In ihrer Telefonzentrale hatte sich der Kurzschluss ereignet, der den Totalausfall von Telefon und Internet an 1600 Anschlüssen verursacht hatte.

Was in Birmensdorf noch funktioniert ist das mobile Datenfunknetz. Schliesslich ist dies das Internet der Zukunft. Wobei, Netz der Zukunft stimmt nicht wirklich: Es ist schon das Internet von heute. In ihrem jährlichen «Internet Trend Report» stellt die internationale Beraterfirma Kleiner, Perkins, Caufield, Byers (KPCB) fest: Die mobile Nutzung des Internets nimmt immer noch massiv zu. Während die Zahl der Internetnutzer selbst nur langsam wächst, gehen weltweit die Zahlen der Mobilfunknutzer Jahr für Jahr in die Höhe.

Das Internet ist nicht mehr stationär. Das Internet ist überall. Kein Wunder sind die Kabel auf den Zeichnungen der sieben- bis elfjährigen Kinder, die für die TagesWoche das Internet abbildeten, meist bloss Ladekabel für Smartphones. Es ist wie mit der Telefonie: Festnetzanschluss war gestern. Wenn Teenager im Jahr 2015 davon reden, dass sie das Internet gar nicht so häufig nutzen, dann meinen sie meist den Browser: Das Programm, das heute wie früher sinnbildlich für «das Internet» steht.

Doch das ist bereits gestern. Das Internet heute, das sind weitgehend Applikationen. WhatsApp. Die Facebook-App. Instagram. Die Twitter-App. You name it. Sie sind das Tor zu den Informationen im Netz, sie überlagern selbst die News-Portale. Kein Wunder, macht Facebook via internet.org das Internet mit einer App zugänglich. Was nicht auf dem Homescreen eines iPhones oder eines Tablets installiert ist, findet kaum mehr statt. Natürlich werden der Heimcomputer oder der Laptop nicht verschwinden. Aber sie sind Arbeitsinstrumente und im Gegensatz zum Smartphone schwerfällig. Das iPhone aber oder das Android-Phone: Sie sind schnell, immer dabei, Unterhaltung und Arbeitsgerät zugleich. 

Aber das wissen wir ja schon. Was wir nicht wissen: Was passiert damit?

Wir haben das Internet gefragt. Seine Antwort: Ein Schulterzucken. Formuliert in der berühmtesten Zeichenfolge des Jahres 2014:

¯_(ツ)_/¯

Von Twitter, Tränen, Gaspatronen

Eine Zeitreise: Wir stehen nicht mehr in Offline-Birmensdorf und auch nicht im sonnigen Menlo Park in Kalifornien, wo Mark Zuckerberg gerade Wege sucht, sich das Internet anzueignen. Es ist Juni 2013, vor fast genau zwei Jahren, und wir stehen mit einer Frau namens Zeynep Tufekci im Gezi-Park in Istanbul. Es ist heiss am 16. und 17. Juni, die Sonne brennt auf die Stadt und den Platz nieder, der voll ist mit protestierenden Menschen, während die Polizei in Kampfmontur einfährt. Es ist laut, die Protestierenden weigern sich zu weichen. Sie sind hier, um sich gegen den Umbau des Parks zu wehren, der als Opfer einer fortgesetzten Umweltzerstörung wahrgenommen wird, und überhaupt gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan. 

Die Polizei verschiesst Tränengas, viel davon. Tufekci hat gelernt, damit umzugehen: In den beissenden Nebelschwaden ruhig bleiben, den Atem anhalten und sich aus der Gaswolke bewegen. Mit Schmerzen in den Atemwegen bemerkt sie: «Nach jedem Auftreffen einer Tränengaspatrone nehmen Protestierende ihr Handy hervor und informieren sich über Social Media, was gerade passiert, oder sie informieren andere darüber.» Tufekci ist keine Protestierende, sie ist Soziologin und sie reiste nach Istanbul, um die Proteste zu dokumentieren. Die Erfahrungen im Gezi-Park hielt sie in einem Bericht des Magazins «Matter» auf medium.com fest. Der Titel: «Ist das Internet gut oder böse? Ja.»



Die Polizei ging am Abend des 15. Juni 2013 mit Tränengas und Wasserkanonen gegen die Protestierenden im Gezi Park in Istanbul vor. Bei den Protestierenden war das Smartphone immer in Griffnähe.

Die Polizei ging am Abend des 15. Juni 2013 mit Tränengas und Wasserkanonen gegen die Protestierenden im Gezi Park in Istanbul vor. Bei den Protestierenden war das Smartphone immer in Griffnähe. (Bild: Tolga Bozoglu)

Sie stellt das Erlebte den Nachrichten über die NSA-Überwachungen gegenüber, den Snowden-Enthüllungen, die ebenfalls im Sommer 2013 ans Licht kamen. Und sie folgert: «Widerstand und Überwachung. Das Design heutiger digitaler Instrumente macht beides unzertrennbar.»

Die Unmengen an erfassten Daten alleine über die Kommunikation, über das Verhalten im Netz – sei es aus Notsituationen getwittert oder aus Langeweile bestellt –, dieser Moloch an für Unternehmen und Regierungen verfügbaren Informationen: Er ist, so Tufekci, das Gute und das Böse in einem. 

Was mit dem Internet passiert, passiert mit uns

«Internet-Technologie lässt uns direkt miteinander interagieren, Mensch zu Mensch, ohne Ablenkungen», schreibt Tufekci. «Gleichzeitig aber schauen die Mächtigen auf genau diese Interaktionen und sie überlegen, wie sie uns gefügiger machen können. Deshalb kann diese Überwachung im Dienst der Verführung letztlich wirkungsvoller und angsteinflössender sein als die Albträume aus George Orwells Roman 1984.»

Ist das Internet also kaputt, wie es der deutsche Internetexperte Sascha Lobo 2014 formulierte? Oder macht es uns kaputt, wie Autor Constantin Seibt als Ergänzung zu Lobo schrieb? «Durch die Zusammenarbeit von Regierungen und Konzernen ist ein System fast absoluter Macht entstanden. Sein Missbrauch ist ohne Weiteres umsetzbar, also nur eine Frage der Zeit. Das ist der radikalste Angriff auf die Demokratie, der sich denken lässt.»

Das Internet ist weder kaputt, noch macht es kaputt. Das Internet ist. Es ist eine Tatsache, eine Infrastruktur, ein Netzwerk von Rechner zu Rechner, das rund um den Globus Menschen verbindet. Das Internet ist weder gut, noch ist es böse. Auch Strom ist nicht böse: Er heizt unsere Wohnungen, sorgt für Licht, warmes Wasser und geladene Akkus. Ist er deshalb gut? Mit Strom wird auch gefoltert und getötet: Ist er deshalb böse? 

Was mit dem Internet passiert, passiert mit uns. Wir leben damit, wir passen uns an und es passt sich uns an. Wir kommunizieren und wir geben unsere Daten preis, Informationen über uns, ob wir gerade einkaufen, Serien schauen oder anzügliche Nachrichten verschicken: Wir sind so nachvollziehbar wie noch nie zuvor in einem umfassenden System aus Datenaustausch, Analyse, Verwertung. Unsere Nutzung des Internets findet auf Plattformen statt, die gigantischen Unternehmen gehören, die das Internet kolonialisiert haben. 

Sie haben ihre Territorien abgesteckt, sie wollen sie verteidigen. Indem sie die Entwicklungen vorantreiben, für sich in Anspruch nehmen. Nicht nur ganz Grosse wie Google, Facebook oder Apple beschränken die Zugänge für App-Entwickler und können so wesentlich über kommerzielle Erfolge anderer entscheiden.

Wir müssen aufholen. Und zwar bald.

Das Internet, Liebling der Visionäre, Schlachtfeld der Dotcom-Blase, ein wirtschaftliches Abenteuer, wahlweise Gold- oder Schlangengrube. Eine gigantische Kommunikations- und Dienstleistungsplattform und auch ein bisschen Wilder Westen für Entwickler, Investoren, Spekulanten und Geschäftemacher. 



Die Herren des Internets: Grosskonzerne wie Apple bestimmen über ihre geschlossenen Plattformen weitgehend, welche Entwickler das grosse Los ziehen und welche nicht. Apple-CEO Tim Cook (links) gab im Juni 2015 bekannt, dass seine Computer-Firma neu auch einen Musikstreamingdienst anbietet.

Die Herren des Internets: Grosskonzerne wie Apple bestimmen über ihre geschlossenen Plattformen weitgehend, welche Entwickler das grosse Los ziehen und welche nicht. Apple-CEO Tim Cook (links) gab im Juni 2015 bekannt, dass seine Computer-Firma neu auch einen Musikstreamingdienst anbietet. (Bild: Jeff Chiu)

In Birmensdorf fehlt es derzeit, man behilft sich via Mobilfunk und bezahlt wieder mit Bargeld. In Menlo Park versucht man, es sich zu eigen zu machen. Im Gezi-Park war es das Kapillarsystem der Proteste – während anderswo im Sekundentakt Daten aufgezeichnet und ausgewertet wurden und werden.

Das Internet bringt uns alles auf Wunsch, es kennt unsere Bedürfnisse, und es bleibt dabei nicht im wohligen Zuhause, wir haben es täglich dabei, legen es kaum aus den Händen. Und daraus lässt sich die grösste Herausforderung ableiten, die das Internet 2015 bildet: Wir stehen in einer vernetzten Gesellschaft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.

Der Umbruch läuft. Während die Giganten der digitalen Wirtschaft überlegen, wie sie mit Ballons in der Stratosphäre das Internet grenzenlos auf die Erde regnen lassen, kämpfen Staaten und Institutionen mit einer Gesetzgebung, die nach wie vor dem technologischen Stand des 20. Jahrhunderts entspricht. Wir stehen mitten in einem gigantischen Transformationsprozess, in dem Copyright-Fragen genauso wichtig sind wie der Umgang mit der Überwachung von Daten durch den Staat.

Was sollen wir also tun? Wir haben da mal das Internet gefragt. Seine Antwort: 

¯_(ツ)_/¯

Das Internet erfindet sich gerade neu. Und dieses Mal sollten wir lieber mitmachen.

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