Das jährliche Zeitdiktat

Alle Jahre wieder sorgt die Zeitumstellung für Diskussionen. Ein paar Ewiggestrige würden halt einfach gern die Zeit zurückdrehen.

A boys yawns during the first lesson of the school year, at a secondary school in the Chechen regional capital of Grozny, Russia, Tuesday, Sept. 1, 2015. (AP Photo/Musa Sadulayev)

(Bild: Keystone/Musa Sadulayev)

Alle Jahre wieder sorgt die Zeitumstellung für Diskussionen. Ein paar Ewiggestrige würden halt einfach gern die Zeit zurückdrehen.

Vielleicht spüren Sie sie noch immer, die Umstellung auf die Sommerzeit. Vielleicht aber auch nicht und Ihr Biorhythmus hat sich bereits an die neue Normalität gewöhnt.

Unser Befinden hängt – wie oft – nicht von allgemeinen Gegebenheiten, sondern von unseren ganz persönlichen Voraussetzungen ab. Die einen «schaffen» die Umstellung schon nach einer Woche, die anderen benötigen deren vier.

Wenn wir in diesen Tagen wieder einmal die zugemutete Umstellung miterleben, können alle an sich selber und ihrem Umfeld ermessen, welcher Art die Auswirkungen sind, und beobachten, dass diese insbesondere für Schulkinder (und ihre Betreuungspersonen) nicht unerheblich sind.

Schwieriger ist es abzuschätzen, was es mit den statistischen Befunden auf sich hat, die uns vermittelt werden: mehr Autounfälle, mehr Herzinfarkte, mehr Fehlgeburten von In-vitro-Schwangerschaften, schlechtere Arbeits- und Lernleistungen, deutlich miesere Laune? Das alles kann uns das Fürchten lehren.

Weniger Licht, mehr Freizeitaktivität

Die Umstellung wird als ein Novum der jüngeren Zeit verstanden. Ein Blick in die Geschichte lehrt jedoch, dass sie schon 1916 in Deutschland, Österreich-Ungarn und in der Schweiz eingeführt wurde, wenn auch nur für ein paar Jahre. Es bleibt aber die Frage – und die wird inzwischen immer ernster genommen –, wie sich die abrupte Umstellung auf den Körper auswirkt.

Warum eigentlich diese Umstellung? Es geht um Energieeinsparung. Diese wird von den Sommerzeit-Gegnern allerdings als bescheiden, unbedeutend und minim eingestuft. Verlautbarungen der Energiebranche, die selber ein Interesse am Umsatz hat, verweisen ebenfalls auf kaum ins Gewicht fallende Einsparungen: An hellen Sommerabenden würde zwar weniger Strom für Licht verbraucht, dafür aber wegen zusätzlicher Freizeitaktivitäten mehr Strom benötigt. 

Schon früheren Sommerzeit-Regimen lagen Sparabsichten zugrunde. So wurden Sommerzeiten in den Mangelzeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges wegen Kohleknappheit eingeführt. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Sommerzeit wegen der grossen Ölkrise von 1973 aktuell. Es dauerte allerdings, bis 1976 Frankreich und 1980 Deutschland und Österreich die Sommerzeit einführten. In Deutschland gab es wenigstens in diesem Punkt Harmonie sogar zwischen BRD und DDR. Italien kannte die Sommerzeit bereits vorher.

Als die Schweiz eine Zeitinsel war

Und die Schweiz? Vorstösse für eine Lösung aus eigenem Antrieb gab es schon während der Ölkrise. Doch schon bald stellte sich für das kleine Land die nicht untypische Frage, ob es die in der europäischen Nachbarschaft vorgesehene Umstellung auf Sommerzeit mitmachen solle. Der Bundesrat wollte die Einführung 1978 im Gleichschritt mit den Nachbarn vorbereiten, insbesondere wegen der Fahr- und Flugpläne, der Grenzgänger und der Touristen.

Doch es kam zum Referendum. Ein kräftiges Gegenargument bildeten die am Morgen zu melkenden Kühe. Bauernverband und nationale Rechte, vor allem die SVP, waren dagegen, Handel und Industrie dafür, und die Linke beschloss Stimmfreigabe. Am 28. Mai 1978 setzte sich das Nein-Lager mit 52,1 Prozent durch. Die welschen Kantone und allgemein die Grenzregionen, natürlich auch beide Basel und das Tessin, waren für die Anpassung.

Die Schweiz wurde zur Zeitinsel, die SBB schalteten einen Notfahrplan, der mit zusätzlichen 15 Millionen Franken zu Buche schlug. Nun liess man etwas Zeit verstreichen. Dabei ging es nicht um Respekt vor dem ablehnenden Volksvotum, das man auch als Zufallsmehr hätte abtun können. Stattdessen wollte man, so suggerierte es damals die NZZ, die lieben Miteidgenossen die Schwierigkeiten des Sonderfalls real spüren lassen, um bessere Voraussetzungen für einen zweiten Anlauf zu schaffen.

Vereinheitlichung von Zeitregimen ergibt Sinn, wenn die Interaktionen zwischen Lebensräumen zunehmen.

1980 kam das Zeitgesetz wieder auf den Tisch und erneut wurde – angeführt von einem noch jungen SVPler namens Christoph Blocher – das Referendum gegen das «Zeitdiktat aus Brüssel» ergriffen. Die nötige Unterschriftenzahl kam aber nicht zusammen. Im März 1981 wurde die Sommerzeit eingeführt, und die Kühe hatten offenbar nichts dagegen.

Vereinheitlichung von Zeitregimen ergibt Sinn, wenn die Interaktionen zwischen Lebensräumen zunehmen. Dieser Sinn führte in der aus vielen kleinen Kammern zusammengesetzten Schweiz im Laufe des 19. Jahrhunderts insbesondere wegen der Telegrafen- und der Eisenbahnverbindungen zu einer überregionalen Zeitordnung.

Nach der gleichen Logik standardisierte die EU 1998 ihre nationalen Zeitordnungen. Eine Richtlinie hält seit 2002 fest, dass die Sommerzeit «dauerhaft, EU-weit und für alle Mitgliedstaaten verbindlich» erhalten bleiben muss.

Viele Kritiker der Sommerzeit ergreifen einfach die Gelegenheit, um gegen Diktate von oben aufzubegehren.

Mittlerweile gibt es aber nicht wenige EU-Parlamentarier, die, angeführt vom Rheinländer Herbert Reul, die Sommerzeit wieder abschaffen wollen. Eines ihrer Argumente lautet, dass die EU mit einer solchen Leistung bei den Menschen wieder sympathischer erschiene. Reul ärgerte sich anlässlich der Zeitumstellung 2015 darüber, dass die EU-Kommission seit Jahren alle Initiativen in diesem Bereich blockiere, obwohl das Thema vielen Menschen nahegehe: «Manchmal bringt Bewegung in solchen Fragen mehr für Europa als die grossen Themen.» 

Damit Vereinheitlichung einleuchtet, sollte das massgebende Zeitregime als an sich richtig erscheinen und nicht als standardisiert falsch. Falsch allenfalls darum, weil die mit dem Zeitenwechsel verbundene Belastung in keinem vertretbaren Verhältnis zum angestrebten Ertrag steht. Würde man den Halbjahreswechsel aufheben, bliebe die Frage, welches Zeitregime fortan gelten soll. Auch da gibt es unterschiedliche Präferenzen. Die Zahl derjenigen, die das ganze Jahr Winterzeit haben möchte, dürfte grösser sein als diejenige der Sommerzeitler.

Wegen des abrupten Übergangs in die Sommerzeit mag es Beeinträchtigungen geben, die sich sogar statistisch erfassen lassen und auch darum nach Beachtung und Berücksichtigung rufen. Zahlreiche Stimmen erheben sich aber nicht wegen körperlicher Leiden, sondern nur, um eine schöne Gelegenheit zu ergreifen, gegen Diktate von oben aufzubegehren.

Die Zeit zurückdrehen

Wenn sich jemand einen Jetlag zumutet oder am Morgen nicht fit ist, weil er oder sie einen überlangen Abend hatte, dann ist das eine selbstverständlich in Kauf genommene Privatsache. Sind jedoch Konsequenzen dieser Art die Folgen einer generellen Ordnung, kommt es schnell zu Äusserungen wie: «Müssen wir uns immer alles gefallen lassen, was Politiker entscheiden?»

Solches Aufbegehren richtete sich gegen den eigenen Staat und – mit noch grösserer Aversion – gegen den in Brüssel domizilierten Überstaat. Darum ist es nicht erstaunlich, dass Anti-EU-Exponenten etwa in Österreich laut die Abschaffung der Sommerzeit fordern.

Ebenso wenig erstaunt, dass sich eine SVP-Volksvertreterin, Yvette Estermann, die sonst vor allem die Landeshymne retten will, mehrfach dafür einsetzte, dass – sozusagen im doppelten Sinn – die Zeit zurückgedreht wird. Vier Vorstösse hat sie dazu bereits lanciert, den letzten im Dezember 2016. Ihr Hauptargument: für einmal nicht die nationale Souveränität, sondern der «monatelang chronische Schlafmangel».

In diesem politischen Milieu findet sich bei Nationalrat Christian Wasserfallen (FDP) auch die Meinung, dass die Schweiz «mit dem guten Beispiel» vorangehen soll und die EU dann nachziehen werde.

Irritationen hinnehmen

In der Regel wird bei diesem Thema nach Volksabstimmungen gerufen. Es gibt allerdings auch Stimmen, die überhaupt nichts gegen höchst autoritäre Entscheide haben, sofern man sie für richtig hält: «Putin hat diesen Mist abgeschafft – warum nicht auch wir.» Seit Oktober 2014 herrscht in Russland «ewiger» Winter.

Zum Schluss: Mag die Einsparung im kollektiven Energiehaushalt auch gering sein, die vorübergehenden Irritationen durch den Zeitenwechsel sollten, weil ebenfalls gering, hingenommen werden können. Auch als bescheidenen Tribut für die Energiewende 2050.

Zur Überwindung der schwierigen Tage sind auch diesmal in der Boulevardpresse beherzigenswerte Ratschläge bereitgestellt worden: Nebst Gymnastik vor offenem Fenster jeden Tag ein paar Minuten früher ins Bett und entsprechend früher das Abendessen zu sich nehmen – und zwar ein leichtes.

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