Das Kalkül der Kalorien-Dealer

Würden Lebensmittelproduzenten vorwiegend Frischgemüse und Getreide verkaufen, dann gäbe es weder Nestlé noch Coca-Cola. Das grosse Geld machen die Firmen mit vorgefertigtem Essen – die Folge: Die Menschen werden immer dicker.

In aller Munde: Convenience Food (Bild: Hans-Jörg Walter)

Würden Lebensmittelproduzenten vorwiegend Frischgemüse und Getreide verkaufen, dann gäbe es weder Nestlé noch Coca-Cola. Das grosse Geld machen die Firmen mit vorgefertigtem Essen – die Folge: Die Menschen werden immer dicker.

Über 50 Prozent der Schweizer seien übergewichtig, titelte kürzlich die «SonntagsZeitung».

Na und? Seit Jahren sind Schlagzeilen solcher Art an der Tagesordnung in der heutigen Gesellschaft. Übergewicht ist im Begriff, das Rauchen als «Volkskrankheit» abzulösen. Doch während das Rauchen allgemein als schädlich erkannt ist, toben beim Übergewicht Glaubenskriege an allen Fronten: Ist der Lebensstil daran schuld oder die Ernährung? Werden Dicke diskriminiert oder haben gerade sie mehr vom Leben im Sinne von «rund und gesund»?

Fragen wie diese werden in Talkshows und am Stammtisch leidenschaftlich diskutiert. In der Praxis werden derweil die Menschen dicker und dicker. Wir stehen vor einem Paradox, das der US-Ernährungsjournalist Michael Pollan treffend formulierte: «Wir sind eine bemerkenswert ungesunde Bevölkerung geworden, die besessen ist von Ernährung, Diäten und der Vorstellung von gesundem Essen.»

Die Ernährung ist ein Problem

Im Einzelfall kann das Dicksein sehr unterschiedliche Gründe haben: Ernährung, Bewegung, Veranlagung. Doch wenn Amerikaner, Franzosen, Briten, Deutsche, Italiener, Schweizer – kurz: Wenn die Menschen in allen entwickelten Gesellschaften der Welt im gleichen Zeitabschnitt immer dicker werden, dann schreit dies förmlich nach einer gemeinsamen Ursache.

Weil sich das menschliche Erbgut nur sehr langsam verändert – so alle 100 000 Jahre ein bisschen – und weil jeder, der sich schon einmal auf einem dieser mit Kalorienzähler ausgerüsteten Laufbänder abgemüht hat, weiss, wie lange man sich abstrampeln muss, um bloss ein paar Dutzend Kalorien zu verbrennen, kann diese gemeinsame Ursache weder Veranlagung noch Bewegungsmangel sein: Sie muss in der Ernährung liegen.

Diese Schluss­folgerung lässt sich leicht in der Praxis überprüfen. Ob New York, Paris, Rom oder Basel: Überall essen Menschen mehr oder weniger das Gleiche, nämlich industriell gefertigtes Convenience Food. Umgekehrt fällt jedem, der nach Tokio reist, sofort auf, dass die Menschen dort deutlich schlanker sind. Kein Wunder: Die ­Japaner meiden die westliche Diät – und das mit gutem Grund.

Alles sei politisch, postulierten einst die 1968er-Revolutionäre. Was die Ernährung betrifft, stimmt dies heute noch. «Food Politics» heisst ein Buch der New Yorker Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle. Es zeigt eindrücklich auf: Was wir essen und was nicht, hat nicht nur mit unseren Vorlieben zu tun, sondern ist das Resultat eines Interessenkonflikts, bei dem es um viel Geld und Macht geht. Die Ursache des Konfliktes ist dabei erschreckend banal: In den entwickelten Gesellschaften übertrifft das Nahrungsmittelangebot die Nachfrage bei Weitem.

Rund 3900 Kalorien stellt gemäss Nestle die US-Nahrungsmittelindustrie jeder Amerikanerin und jedem Ame­rikaner täglich zur Verfügung – fast doppelt so viel, wie ein durchschnittlicher Mensch benötigt. In den USA mögen die Verhältnisse extremer sein als bei uns, doch auch hierzulande herrscht bei Lebensmitteln nicht Mangel, sondern Überfluss.

Das hat Folgen. «Um unter diesen Bedingungen die Verkäufe zu erhöhen, machen Lebensmittelkonzerne Druck bei Regierungsstellen, schmieden Allianzen mit Gesundheitsberufen, bewerben Kinder, verkaufen Junkfood als ­Gesundheitsnahrung und sorgen dafür, dass Gesetze verabschiedet werden, die nicht der Volksgesundheit dienen, sondern den Interessen der Konzerne», stellt Marion Nestle fest. Mit ihrem alltäglichen Geschäftsgebaren trügen die Lebensmittelkonzerne dazu bei, dass mehr Nahrungsmittel verzehrt würden und dass die Wahl von gesunden Lebensmitteln vernachlässigt werde.

«Mit Nahrungsmitteln kann man sehr viel Geld verdienen, solange man nicht versucht, es auf natürliche Art wachsen zu lassen», lautet ein zynischer Spruch. Tatsächlich: Das Getreide für unser Frühstücksmüesli kostet ein paar Rappen; Süssgetränke bestehen aus Wasser, Zucker und ein paar Geschmacksstoffen; Kartoffeln werden wirtschaftlich erst interessant, wenn sie zu Chips verarbeitet werden – die Liste liesse sich fortsetzen.

Würde die Lebensmittelindustrie vorwiegend Frischgemüse und Getreide verkaufen, dann gäbe es weder Nestlé noch Coca-Cola. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat diese Industrie grosse Fortschritte gemacht. Heute ist sie in der Lage, billig und effizient produzierte Kalorien in eine Vielfalt von Produkten zu verwandeln, die nichts mehr mit ihrem Ursprung zu tun haben. Grundlage dazu bilden meist Mais oder Soja.
Für die Lebensmittelwissenschaftler sind diese Pflanzen nicht mehr eigenständige Nahrungsmittel, sondern eine Art Basisstoff.

In seinem Buch «Das Omnivoren-Dilemma» schildert Michael Pollan diesen Prozess wie folgt: «Pflanzen und Tiere werden in ihre Grundbestanteile zerlegt und neu in hochwertige Nahrungsmittelsysteme zusammengesetzt. Die natürliche Möglichkeit der Allesfresser, eine sehr grosse Anzahl von Lebensmitteln zu verdauen, wird so auf ein paar Pflanzen reduziert, und gleichzeitig wird auch die biologische Grenze, das Sättigungsgefühl, überwunden.»

Billige Kalorien in Hülle und Fülle

Die Lebensmittelindustrie ist Opfer ­ihres eigenen Erfolges geworden. Sie kann heute aus billigen Kalorien eine scheinbar unendliche Fülle von Convenience-Food-Varianten herstellen. Auch Fleisch, das im Zeitalter der mit Kraftfutter gemästeten Tiere eine Art umgewandelte Form von Mais und Soja geworden ist. Doch eines können selbst die raffiniertesten Ernährungswissenschaftler nicht ändern, den menschlichen Magen. Der Kalorienbedarf nimmt in der modernen Dienstleistungsgesellschaft nicht zu, sondern ab.

Light-Produkte sind der naheliegende Weg aus diesem Dilemma. Deshalb sind Heerscharen von Wissenschaftlern damit beschäftigt, Zucker und Fett durch kalorienfreie Alternativen zu ersetzen. Immer öfters werden industriell produzierte Nahrungsmittel mit Stoffen veredelt, die sie angeblich gesund machen. Beides zusammen hat zu einer Ernährungsrevolution geführt. «Staatliche Ex­perten, Ernährungswissenschaftler und Gesundheitsbeamte haben die Art und Weise, wie wir essen und wie wir über das Essen denken, dramatisch verändert», so Michael Pollan. «Wir haben das grösste Ernährungsexperiment in der Geschichte gestartet. 30 Jahre später haben wir allen Grund festzustellen, dass der Versuch gescheitert ist. Die Ernährungsexperten haben nicht nur unser Essen ruiniert, sie haben auch nichts für unsere Gesundheit erreicht.»

Wie sehr die Politik das Essverhalten beeinflussen kann, zeigen die «Cola-Kriege» an US-Schulen. Worum gehts? In den USA werden die Schulen aus den Gemeindesteuern bezahlt. Das hat zur Folge, dass arme Gemeinden kein Geld und somit schlechte Schulen haben. Für die beiden grossen Cola-Hersteller Coca-Cola und Pepsi-Cola ist dies eine willkommene Chance: Sie bieten diesen Schulen Geld an gegen das Recht, Getränkeautomaten aufstellen zu können. Für die Konzerne ist das doppelt interessant: Erstens sind Schüler und Studenten ein sehr attraktives Zielpublikum – der Durchschnittskonsum von Cola pro Schüler und Tag beträgt zwei Dosen –, und zweitens werden hier junge Menschen auf eine Marke eingeschworen.

Marketingfachleute wissen, dass sol­che Schwüre oft ein Leben lang halten. Die Cola-Hersteller machen deshalb für das Recht, an einer Schule oder einem College exklusiv Getränkeautomaten aufstellen zu dürfen, sehr viel Geld locker.

All dies wäre, wie es so schön heisst, eine klassische Win-Win-Situation: Arme Schulen erhalten von reichen Konzernen grosszügige Unterstützung und können Lehrer und teure Unterrichts­geräte bezahlen. Es wäre eine Win-Win-Situation – wenn die Getränke nicht so viel Zucker enthalten würden.

Dickmacher für arme Schulen

Den Betroffenen ist das durchaus bewusst. Marion Nestle zitiert einen Rektor aus Ohio wie folgt: «Es hat uns nachdenklich gemacht, dass unsere Schüler gezwungen werden, für ihre Erziehung mit dem Kauf von Softdrinks zu bezahlen. Schlussendlich haben wir aber entschieden, dass dies nicht der Fall sein muss, denn jeder Schüler hat die Wahl zu kaufen oder nicht zu kaufen. Warum sollten die Schulen nicht von diesem Geldsegen profitieren? Alle gewinnen schliesslich: die Studenten, die Schulen und die Gemeinschaft. Und für einmal werden die Steuerzahler verschont.»

Der Zynismus dieser Argumenta­tion verdient es, diese nochmals speziell auszudeutschen. Das US-Steuer­system ist so beschaffen, dass grosse Unterschiede in der finanziellen Potenz der einzelnen Schulgemeinden bestehen und arme Kinder schon früh krass benachteiligt werden. Diesem Missstand wird damit abgeholfen, indem man – überspitzt formuliert – die Drogenhändler legal auf dem Pausenplatz agieren lässt. Will heissen: Mit dem Verkauf von Süssgetränken wird einer der bekanntermassen schlimmsten Dickmacher aktiv gefördert. Das Resultat: Altersdiabetes ist zunehmend bereits bei Jugendlichen zu beobachten. Parallel dazu explodieren die Gesundheitskosten wegen Fettleibigkeit. Die Ideologie der Steuervermeidung schlägt auf geradezu absurde Weise in ihr Gegenteil um.

Es gibt eine Antithese zu dieser Politik. Dänemark hat im vergangenen Sommer eine sogenannte Fettsteuer eingeführt. Wie Alkohol und Tabak werden Esswaren mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt mit einer Abgabe belegt. Die Fettsteuer ist von einer konservativen Regierung und mit grosser Zustimmung der Bevölkerung beschlossen worden. Inzwischen haben die Sozialdemokraten die Wahlen gewonnen und den Steuersatz bereits verdoppelt – schliesslich ist die Fettsteuer in diesen harten Zeiten ein willkommener Zustupf für die leere Staatskasse.

Doch sie ist natürlich nicht für diesen Zweck eingesetzt worden. Die Skandinavier im Allgemeinen und die Dänen im Speziellen haben ein ganz anderes Verhältnis zu Steuern und Staat als die Angelsachsen. Steuern sind nicht des Teufels. Es ist okay, die Menschen mittels fiskalischen Anreizen auf den richtigen Weg zu bringen. Die Dänen handeln nach der Devise: «Wenn etwas den Menschen schadet, aber nicht so sehr, dass es verboten werden muss, dann besteuern wir es.»

Triumph der Industrie

Convenience Food ist ein Triumph der Nahrungsmittelindustrie. Sie hat uns billige Lebensmittel gebracht, die im Nu zubereitet sind. Volkswirtschaftlich gesehen ist sie ein Desaster. «Dreissig Jahre industrielle Ernährung haben dazu geführt, dass wir dicker, kränker und schlechter ernährt sind», stellt Michael Pollan fest. «Deshalb befinden wir uns in der misslichen Situation, in der wir uns fragen müssen: Brauchen wir eine ganz neue Art, über unsere Ernährung nachzudenken?»

Angesichts der Tatsache, dass der Trend zur Fettleibigkeit anscheinend nicht zu stoppen ist, angesichts der Tatsache, dass in der modernen Welt ein grosser Teil der Nahrung weg­geworfen wird und in der Dritten Welt ein grosser Teil verdirbt, brauchen wir mehr: eine neue Ernährungspolitik.

Quellen

Quellen:

Marion Nestle: Food Politics, University of California Press, Berkley, 2002
Michael Pollan: In Defense of Food, The Penguin Press, New York, 2008
Michael Pollan: The Omnivore’s Dilemma, Penguin Books, New York, 2006

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11

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