Das Märchen vom 5,79-Liter-Auto

Neuwagen hätten 2016 im Schnitt 5,79 Liter Benzin verbraucht, meldet das Bundesamt für Energie. In der Praxis verbrennen diese Autos aber sieben bis acht Liter auf 100 Kilometer.

Schweizer kaufen gern grosse und starke Autos. So sparsam, wie sie gemäss CO2-Gesetz sein sollten, sind sie aber nur unter Laborbedingungen.

Neuwagen hätten 2016 im Schnitt 5,79 Liter Benzin verbraucht, meldet das Bundesamt für Energie. In der Praxis verbrennen diese Autos aber sieben bis acht Liter auf 100 Kilometer. Denn die Testzyklen bilden in vielen Punkten nicht die Realität ab.

Seit 2015 darf die CO2-Emission der neu in Verkehr gesetzten Autos im Schnitt nur noch 130 Gramm pro Kilometer Fahrt betragen; das entspricht 5,6 Liter Benzin pro 100 Kilometer Fahrt. Damit übernahm die Schweiz im CO2-Gesetz die Vorschriften der EU, um die Klimaerwärmung zu bremsen.

Diese Norm haben die 320’000 Autos, die 2016 in der Schweiz neu zugelassen wurden, im Schnitt nahezu erreicht. Das jedenfalls zeigt die Medienmitteilung, die das Bundesamt für Energie (BFE) Anfang Woche versandte («Verbrauch bei Neuwagen lag 2016 bei 5,79 Liter pro 100 Kilometer»). Denn die 5,79 Liter Benzinäquivalent pro 100 Kilometer (ermittelt aus Benzin-, Diesel- und wenigen Elektroautos) ergeben einen Mittelwert von 134 Gramm COpro Kilometer.

Verbrauch 20 bis 40 Prozent höher

Was die Medienmitteilung des BFE verschweigt: Bei 134 Gramm CO2 respektive 5,79 Liter Benzinäquivalent handelt es sich um Mittelwerte, die gemäss «Neuem Europäischem Fahrzyklus» (NEFZ) von 1996 auf dem Prüfstand erreicht wurden. Doch die Ergebnisse dieser Labormessungen und der Verbrauch auf den Schweizer Strassen klaffen weit auseinander. In der Praxis verbrennen die 2016 neu zugelassenen Autos 20 bis 40 Prozent mehr als das Gesetz auf dem Prüfstand erlaubt, also sieben bis acht Liter, gemessen in Benzineinheit.

Bei diesen sieben bis acht Litern handelt es sich um eine Schätzung, denn der wahre Spritverbrauch schwankt je nach Fahrzeugausstattung, Gewicht und Fahrweise. Doch diese Schätzung ist gut dokumentiert. Das zeigen folgende Ergebnisse:

  • Der Touring Club der Schweiz (TCS) ermittelt jährlich die Differenz zwischen Prüfstand- und Praxisverbrauch bei den von ihm getesteten Autos. Resultate: Die Schere zwischen Prüfstand und Praxis öffnet sich stark: Im Jahr 2000 betrug die Differenz erst 0,4 Liter, im Jahr 2014 bereits 1,5 Liter oder 25 Prozent. Demnach verbrauchen die 2014 neu zugelassenen Autos 7,6 Liter Benzinäquivalent pro 100 Kilometer. Pro Durchschnittsauto und Jahr resultierte damit ein Mehrverbrauch von über 200 Liter Treibstoff.
  • Eine Untersuchung des International Council on Clean Transportation (ICCT) verglich die Differenz zwischen Prüfstand und Praxis nach Marken. Resultat der 2015 vom «Kassensturz» veröffentlichten Erhebung: Die Differenz schwankte zwischen 25 und 38 Prozent. Dabei fiel auf, dass die Unterschiede bei teuren Marken – und tendenziell grösseren Spritschluckern – wie Mercedes oder BMW grösser waren als bei Marken wie Toyota, Peugeot oder Renault, die billigere Autos mit durchschnittlich kleinerem Verbrauch produzieren.
  • Christan Bach, Abteilungsleiter bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt Empa, die sich seit Jahren mit Prüfstandmessungen beschäftigt, schätzt die Differenz zwischen Prüfstand- und Praxisverbrauch im Jahr 2015 auf rund 40 Prozent, Tendenz ebenfalls steigend. Dabei stützt Bach sich ebenfalls auf mehrere unabhängige Stichproben und Erhebungen. 

Vielfach verfälschter Verbrauchstest

Damit fragt sich, wie die riesigen Differenzen zwischen gesetzlich relevanter Prüfung und klimarelevantem Praxisverbrauch zustande kommen. «Die Hersteller schummeln», kritisieren die einen. «Nein», entgegnen befragte Experten der Empa, «die Hersteller optimieren bloss ihre Fahrzeuge für einen gesetzlichen Testzyklus, der mit der Realität immer weniger zu tun hat.»

Das geben mittlerweile auch Hersteller und Importeure von Personenwagen zu. So sind unter anderen folgende Laborbedingungen fern jeder automobilen Praxis: 

  • Die Autos auf dem Prüfstand fahren im Schnitt langsamer und beschleunigen gemächlicher als im realen Verkehr.
  • Die Hersteller lassen diejenigen Ausführungen ihrer Modelle testen, die am wenigsten Gewicht auf den Messstand bringen. Diese nur selten verkauften Light-Modelle können mehrere Hundert Kilo leichter sein als die am meisten verkauften und mit vielen Extras ausgerüstete Versionen. Dabei gilt die Regel: Hundert Kilo Mehrgewicht erhöhen beim gleichen Motor den Spritverbrauch um 8 Prozent. Das ist deshalb von Belang, weil das neue Durchschnittsauto immer schwerer wird – 2016 wog es bereits 1565 Kilogramm und beförderte im Schnitt 1,6 Personen. Die Verpackung ist damit zehnmal so schwer wie die beförderte «Fracht».
  • Die Durchschnittstemperatur im Prüflabor beträgt 20 Grad Celsius. Bei dieser optimalen Temperatur bleiben Heizung und Klimaanlagen mit dem Segen des Gesetzgebers beim Test ausgeschaltet, wie auch Bordcomputer, Radio und weitere energiefressende Installationen, die heute zur Standardausrüstung der meisten Autos gehören.
  • Die Hersteller optimieren die Motoreinstellungen für den Prüfzyklus, versehen die Autos mit dünnen Pneus und sorgen damit für geringeren Rollwiderstand etc. 

Neue Testbedingungen bringen leichte Anpassung 

Seit Jahren fordern Politikerinnen und Behörden im In- und Ausland eine Anpassung des 21 Jahre alten Testzyklus. Ab September 2017 soll der modifizierte NEFZ endlich eingeführt und ab 2019 gültig werden. Er nähert die Laborbedingungen den Verhältnissen im Strassenverkehr zwar etwas an, ohne aber den Praxisbetrieb mit eingeschalteter Klimaanlage oder aufgeschnalltem Velo- und Skiständer zu erreichen.

Die Kluft zwischen Gesetzesnormen und praktischem Autoverkehr wird damit weiterhin bestehen bleiben. Und spätestens wenn es um die Einführung der – von der Schweiz via Energiegesetz beschlossenen – Verschärfung der CO2-Grenzwerte ab 2021 geht, wird die Kontroverse um den richtigen Testzyklus wieder aufflammen.

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