Das «Mosaik der Demokratie» ist vorerst fertig – eine Zwischenbilanz

Es fehlen noch viele Steine im «Mosaik der Demokratie» unseres Kolumnisten Andreas Gross. Vier besondere Schwächen der schweizerischen Demokratie hat er aber bereits ausgemacht – und entsprechende Massnahmen entworfen.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Es fehlen noch viele Steine im «Mosaik der Demokratie» unseres Kolumnisten Andreas Gross. Vier besondere Schwächen der schweizerischen Demokratie hat er aber bereits ausgemacht – und entsprechende Massnahmen entworfen.

Was der grosse weise indische Philosoph Amartya Sen zur Gerechtigkeit schrieb, gilt auch für die Demokratie: Priorität hat heute nicht der Entwurf einer idealen Demokratie. Priorität haben die Antworten auf diese zwei Fragen: Wie kann die Entdemokratisierung der gegenwärtigen Welt aufgehalten werden? Und wie kann eine neue Demokratisierung unserer Lebensumstände eingeleitet und verwirklicht werden?

Für mich waren diese Fragen die Motivation zum Versuch, das mehr als hundertteilige Mosaik der Demokratie darzustellen, das «Gesamtkunstwerk Demokratie», das ich vor 14 Monaten in der TagesWoche beginnen durfte, auf seine Begriffe zu bringen.

Was macht dieses Gesamtkunstwerk aus? Was gehört zur Demokratie? Welche dieser konstitutiven Elemente der Demokratie drohen uns verloren zu gehen? Welche werden derzeit schwächer, nicht nur, aber gerade auch in der Schweiz? Wie können wir diese Erosionsprozesse aufhalten? Was müssen wir tun, um die Möglichkeiten für eine Erneuerung der schweizerischen Demokratie zu verwirklichen? Wo können wir ansetzen, um die Entdemokratisierung der Schweiz aufzuhalten, eine Schubumkehrung einzuleiten und auch in der Schweiz wieder mehr Demokratie zu wagen? Um so mehr beitragen zu können, dass die Schweiz für mehr Menschen wieder zur Heimat werden kann?

Demokratie: Ein endloser Prozess

Nun hat die TagesWoche beschlossen, dieses Projekt nicht weiter fortzusetzen. Deshalb soll hier eine erste Zwischenbilanz gezogen werden nach genau 29 von insgesamt über 100 geplanten Annäherungsversuchen an das, was heute unsere Demokratie ist, einmal war – und vor allem auch: mal werden könnte.

In den 29 Beiträgen wurden mehrere Dutzend konstitutiver Wesenselemente der Demokratie dargestellt: 

  • Das institutionelle Set der Demokratie (Verfassung, Gesetz, Recht, Rechtsstaatlichkeit, Wahlen, Volks- und BürgerInnen-Souveränität, Grundrechte, Freiheiten, Parlament, Regierung, Gericht),
  • Verfahren und Wege der Partizipation (Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz, Gesetzesinitiativen und -referenden, Verfassungsinitiativen und -referenden, Motionen, Bürgerjurys),
  • Werte der Demokratie (Würde, Menschenrechte, Gleichheit, Gleichwertigkeit, Differenz, Selbstbestimmung, Machtteilung, Dezentralisierung, Begrenzung),
  • deren Mentalität (zuhören, reden, verständigen, lesen),
  • Formen (Protest, Zweifel, Revolte, Widerstand, Konflikt, Engagement),
  • Ressourcen (Bürgerzeit, Empathie, Handlungsbereitschaft, Bildung, Organisationsfähigkeit, Öffentlichkeit, Sicherheit, Macht, Staat, lernen)
  • Ansprüche (Gleichheit, Selbst- und Mitbestimmung, Freiheit, Gerechtigkeit, Fairness, Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Minderheitenschutz, Schutz und Nachhaltigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen),  
  • Prinzipien (Dialog, Kommunikation, Diskussion, Deliberation, Gewaltenteilung, Inklusion, Transparenz),
  • Leistungen (Legitimität, Integration, Freiheit, Identifikation),
  • Versprechen (Frieden, gerechte Verteilung der Lebenschancen, Wahrnehmung und Entfaltung der individuellen Möglichkeiten, vernünftige Ordnung),
  • die Infrastruktur, derer die Demokratie bedarf (Volksschule, politische Bildung, Parteien, Gewerkschaften, politische Vereine, Verbände, Medien, Internet, Geld),
  • die Anti-Thesen der Demokratie (Willkür, Ohnmacht, Fremdbestimmung, Absolutheitsanspruch, Hunger, Lüge, Unterdrückung, Gewalt) und
  • die Grenzen der Demokratie (Minderheitsschutz, Liebe, Rechte und Würde der Anderen).

Nicht alle diese Bausteine haben die gleiche Bedeutung für die Qualität der Demokratie. Sie reichen auch ungleich tief in die Gesellschaft. Und für die Qualität des Ganzen wäre auch der Kitt zwischen den Steinen genauer zu beurteilen, wie die Mosaiksteine miteinander verbunden sind und so erst wirklich wirken können.

Und wie gesagt, viele Mosaiksteine – da treffen wir die Grenze der Erklärungskapazität des Bildes «Mosaik» – sind in verschiedenartiger Bewegung, regressiv oder progressiv, weshalb die Demokratie immer ein Prozess ist und (ganz abgesehen von diesem anderswo fortzusetzenden Versuch der Darstellung) auch sachlich immer unvollendet bleiben wird.

Vier drängende Handlungsfelder

Vier besondere Schwächen der schweizerischen Demokratie lassen sich in unserem zum Kaleidoskop weiterentwickelten, vielfach komplexen Mosaik bereits jetzt erkennen:

  1. Zu viele betroffene Menschen werden ausgeschlossen. 
  2. Völlig ungleich verteilte Geldmittel delegitimieren die Demokratie und ihre Entscheidungen, 
  3. deren rechtsstaatliche Ansprüche werden missachtet und
  4. das primäre Versprechen jeder Demokratie in Europa kann aus strukturellen Gründen nicht mehr eingelöst werden.

Daraus folgen vier Prioritäten zur Schubumkehr und zu neuen Schritten der Demokratisierung der schweizerischen Demokratie: 

  1. Alle in der Schweiz geborenen Menschen werden Schweizer und erhalten nach ihrem 18. Altersjahr alle demokratischen Rechte.
  2. Etwas, was die USA seit 100 Jahren, Frankreich seit 30 Jahren und inzwischen alle Staaten praktizieren, wird auch in der Schweiz eingeführt: Der Bund regelt den Umgang mit Geld in der Politik. Private Unternehmungen dürfen mit Geld keine Wahlen und Abstimmungen mehr beeinflussen. Jede Person darf für Wahlen und Abstimmungen pro Jahr höchstens 5000 Franken ausgeben. Dafür unterstützt der Bund Parteien, Initiativ- und Referendumskomitees mit einem jährlich festzulegenden Betrag von beispielsweise 50 Millionen Franken.
  3. Die verfassungsgerichtlichen Kompetenzen des Bundesgerichts werden leicht erweitert: Künftig beurteilt das Bundesgericht die Gültigkeit von eidgenössischen Volksinitiativen. Zu den Gültigkeitserfordernissen gehören künftig auch die Achtung schweizerischer Verfassungsgrundsätze sowie die Europäische Menschenrechtskonvention.
  4. Die Demokratie muss transnational erweitert und transnational verfasst werden, damit sie ihre substanziellen materiellen Ansprüche wieder einlösen kann. Deshalb wandelt sich die EU in einen demokratisch verfassten, föderalistischen europäischen Bundesstaat und die Schweiz wird dessen Mitglied. Dieser Wandel wäre die schärfste Medizin gegen alle gegenwärtig wieder so erstarkenden Nationalismen in Europa. 

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