Das russische Abenteuer des Basler Sinfonieorchesters, Teil 2

Im Rahmen des diesjährigen «Culturescapes»-Schwerpunkts Moskau brach das Sinfonieorchester Basel vergangene Woche zu einer viertägigen Russlandreise auf. TagesWoche-Redaktorin Tara Hill durfte die Basler Delegation auf ihrer abenteuerlichen Exkursion nach St. Petersburg und Moskau begleiten.

Auf dem Balkon des Hotelzimmers im «Grand Hotel Europe» (Bild: zvg)

Im Rahmen des diesjährigen «Culturescapes»-Schwerpunkts Moskau brach das Sinfonieorchester Basel vergangene Woche zu einer viertägigen Russlandreise auf. TagesWoche-Redaktorin Tara Hill durfte die Basler Delegation auf ihrer abenteuerlichen Exkursion nach St. Petersburg und Moskau begleiten.

> Zum ersten Teil der Reportage

«Moskau einfach»: So lautete bis vor zwei Jahrzehnten nicht nur eine häufig zu hörende Schweizer Redewendung, die man bevorzugt als Empfehlung oder gar Befehl in unwirschem Tonfall einwarf, sollte sich in einer Runde jemand offen als Kommunist zu erkennen geben, oder zumindest unter den Verdacht kommen, ein verräterischer Sowjet-Sympathisant und möglicherweise sogar Spitzel zu sein. Gleichzeitig war es aber auch ein gerne benutztes, da bequemes Totschlagargument, wenn es um den Versuch ging, die Spezifika der russischen Kultur oder Politik differenzierter zu analysieren – was gemäss «Moskau einfach!»-Verwendern Zeitverschwendung wäre, da es sich dabei bekanntlich um eine Einbahnstrasse handle.

So praxiserprobt und populär «Moskau einfach!» bis heute in gewissen Kreisen auch sein mag, unterliegt der Ausdruck doch einem grundlegenden Denkfehler – oder einer zumindest missverständlichen Formulierung: Nämlich, dass es einfach war oder ist, nach Moskau zu gelangen, sofern man ein gültiges One-Way-Ticket hat – und dass nur die Rückkehr schwierig bis unmöglich werden könnte, weshalb man es aber wiederum gar nicht erst zu versuchen brauche (da man ja, als potentieller Bolschewik, grundsätzlich selber schuld an seiner schändlichen Gesinnung sei).

Tatsächlich aber machte die 120-köpfige Culturescapes-Delegation eine gänzlich gegenteilige Erfahrung: Nämlich, dass es alles andere als einfach ist, nach Moskau zu gelangen – was unter anderem damit zu tun hat, dass Moskau alles andere als eine einfache Stadt ist, sondern vielmehr ein hochkomplexes Gebilde von für uns Basler kaum durchschaubarer Grössenordnung, das nach eigenen Regeln und Gesetzen funktioniert. 

Orchestermitglieder abhanden gekommen

Dass ich an diesem frühen Mittwochmorgen mit meinem diffus unguten Gefühl keineswegs alleine bin, merke ich schon bei der Ankunft in der Hotellobby. Wo vor wenigen Stunden noch fröhliches Scheiaweia herrschte, macht sich bei den einen jetzt nervöse Hektik breit, während andere zerknittert zum Reisebus schlurfen. Auch der bis anhin zu jedem Zeitpunkt gelassene Ruhe ausstrahlende Tross an Orchesterbegleitern wirkt gereizt. Verständlich: Denn nicht nur ist kaum abzuschätzen, wie die dicke Neuschneedecke sich auf die Strassen- und Flugverkehrslage auswirken wird – ausgerechnet für heute sind in der Hauptstadt ausserdem politische Demonstrationen von Regime-Gegnern angekündet, was wiederum die ganze Innerstadt lahmlegen könnte.

Am meisten beschäftigt den Stab zurzeit allerdings ein viel banaleres Problem: Auch zehn Minuten nach dem offiziellen Abfahrtstermin ist die Delegation noch alles andere als vollzählig. Während einige noch zum Auschecken an der Porte stehen, andere beim Frühstück getrödelt haben und sogar einige bereits im Bus sitzende Passagiere wieder ausgestiegen sind, weil sie im Trubel irgendetwas haben liegen lassen, derweil die letzten Nachzügler schuldbewusst in den Bus huschen, fehlt von mehreren Orchestermitgliedern gar jede Spur.

Der Verdacht liegt nahe, dass einige der Mitglieder, die nach der Premiere noch bis in die nicht mehr ganz frühen Morgenstunden weitergefeiert haben, dank der ungewohnt hohen Anzahl alkoholischer «Wässerchen» im Blut nun noch im Tiefschlaf liegen und weder Wecker noch Telefon und erst recht kein Türklopfen hören. Schliesslich reisst den Reisebegleitern der Geduldsfaden: Die Busse fahren ohne die Verschollenen ab.

Der Transfer zum Flughafen verläuft ruhig, kaum jemand spricht ein Wort – nur einer der jungen Orchesterzuzügler hat laut eigener Aussage «so viel Adrenalin im Blut und ein so schlechtes Gewissen», weil er zum ersten Mal überhaupt verschlafen hat, dass er nicht stillsitzen könne. «Kann ja mal passieren», «Bist ja nun wirklich nicht der einzige» meinen die Kollegen versöhnlich, doch er selber ist untröstlich.

Auch Geschäftsleiter Franziskus Theurillat, der sich bisher diskret, aber freundlich im Hintergrund gehalten hatte, ist not amused. Umso weniger, als er beim  Check-In erfährt, dass der letzte Vermisste vor weniger als einer Minute erst aufgewacht ist. «Unfassbar, dass über hundert Leute nun etwa eine Stunde auf drei Nachzügler warten müssen», ärgert er sich, und verwirft enerviert die Hände. Doch dies ist erst der Anfang: es soll noch viel schlimmer kommen.

Charterflugzeuge und Schneefall

Zuerst schlägt das Wetter um: Plötzlich wieder dichter Schneefall. Die ersten Gates werden bereits geschlossen, als die Delegation die Passkontrolle erreicht. Passieren können aber nur eine Handvoll Leute – denn, wie die Beamten uns wenig enthusiastisch aufklären, befinden wir uns auf einem Terminal, der ausschliesslich Auslandflüge erlaubt – dies, da unsere tschechische Chartermaschine hier gelandet ist. Der Terminal für Inlandflüge liegt dagegen eine gute Autoviertelstunde von hier entfernt – ein Wechsel erfordere eine Sondergenehmigung, deren Ausstellung eine Weile dauern würde. Zunächst versuchen die Basler Reiseplaner den Beamten zu erklären, dass man diese Formalitäten vorab alle schon durchgegangen sei und alle nötigen Papiere und Bewilligungen vorweisen könne. Doch es nützt nichts: Die Freigabe obliegt der Verantwortung des derzeitigen Leiters – und der meint: Njet.

Immerhin treffen nun auch endlich die letzten Siebenschläfer mittels Taxi ein. Theurillat ergreift die Gelegenheit, in einer spontanen Ansprache nochmals energisch die nötige Disziplin einzufordern, ohne die ein Orchester nicht bestehen könne. Man habe zurzeit gleichzeitig ein grosses und ein kleines Problem zu lösen, und in Zukunft werde man die Zeitpläne konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste durchhalten.

Auch wenn die Botschaft ihre Wirkung nicht verfehlt – eine halbe Stunde später sitzen wir immer noch im Transit fest. Die meisten Mitglieder haben sich bereits auf den Boden gelegt, und suchen nach einer nicht allzu schmerzhaften Schlummerposition. Zweckoptimisten deuten jede Uniform in Sichtweite als Überbringer der erlösenden Bewilligung – bis um 11 Uhr, zum Zeitpunkt als unsere Maschine planmässig bereits in der Luft hätte sein sollen, einer der russischen Berater vor Ort tatsächlich mit Neuigkeiten auftaucht – allerdings keinen guten.

Von Medwedew blockiert

Premier Medwedews Präsidialjet habe aufgrund der schlechten Wetter- und Sichtverhältnisse in Moskau keine Landeerlaubnis bekommen, und sei nun im Begriff, in Petersburg zwischenzulanden, erklärt er konsterniert. «Was?! Medwedew ist hier?», fragen ein paar Musiker ungläubig. «Keine Sorge, den wirst Du nicht zu Gesicht bekommen», winkt der auf dem Boden ausgestreckte George Monch ab. Er sei selbst nahe des Reagan-Flughafens in der Präsidentenstadt Washington D.C. aufgewachsen und habe diese Situation immer wieder erlebt. «Würdenträger und hohe Tiere mischen sich nicht einfach unters Volk. Die werden direkt an einen geheimen Ort gebracht und völlig abgeschirmt», erklärt er: «Aber die schlechte Nachricht ist, dass der gesamte Terminal wohl komplett gesperrt sein wird, bis er die Freigabe von Moskau kriegt, dass er jetzt rüberfliegen kann. Bevor er heil in der Luft ist, bewegt sich hier gar nix.» Er behält Recht: Nun ist jeder Widerstand zwecklos, wir sitzen definitiv in Petersburg fest.

Nach einer weiteren, zähen Stunde ungewissen Ausharrens auf dem Boden der Schalterhalle kommt immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer auf: Das Wetter in Moskau bessere sich, Medwedew werde so rasch wie möglich weiterfliegen. Sobald die Maschine startklar sei, würde der Transfer zum Terminal organisiert. Tatsächlich: Eine halbe Stunde später fahren die ersten klapprigen Kleinbusse vor, die uns in Zehnergruppen abholen. Eine Viertelstunde fahren sie durchs menschenverlassene, zugeschneite Niemandsland, durchqueren Tannenwälder und Autobahnausfahrten, bis aus der nebligen Ferne zuerst ein Flughafengebäude, dann eine energisch winkende Barbara Schneider auftaucht.

Da das Terminal für Inlandflüge zurzeit umgebaut wird, halte jeder Bus woanders, meint sie händeringend. Es sei unklar, in welche Himmelsrichtungen der Rest unserer Delegation verstreut werde – vom bereits eingecheckten Gepäck ganz zu schweigen. «Es gibt keine andere Möglichkeit, als dass ich jeden der Busfahrer persönlich zum Eingang lotse», lautet ihr erstaunlich nüchternes Fazit. Damit die Stiftungspräsidentin nicht stundenlang bei zweistelligen Minusgraden bibbern muss, leihe ich ihr meine Mütze.

Es dauert eine weitere Stunde, bis alle Teilnehmer am richtigen Terminal ankommen, und eine weitere halbe Stunde, bis ein Teil unserer Delegation alle bereits eingecheckten Gepäckstücke abgeholt und von Hand zum Flugzeug geschleppt hat. Um keine Sekunde mehr als nötig zu verlieren, werden wir im Gänsemarsch durch Sicherheitskontrollen geschleust, marschieren im Stechschritt über Rolltreppen und durch ein Labyrinth aus Gängen. Am Gate werden keine Sonderwünsche wie WC-Besuche oder Getränkekauf mehr akzeptiert, es geht direkt ins Flugzeug. Nach einer weiteren Dreiviertelstunde Gepäckverlad und Enteisung endlich der erlösende Funkspruch des Captains, dass wir eine Starterlaubnis haben. Viereinhalb Stunden später als geplant hebt unser Charter ab: Während des einstündigen Flugs herrscht fast komplette Stille im Flieger.

Erst kurz vor der Landung dann die Durchsage, dass alle sich schnurstracks zum Ausgang des Terminals begeben sollen, wo vier Reisebusse warten. Für eine ausführliche Anspielprobe bleibe wohl kaum mehr viel Zeit, die mit Lastwagen und Zug vorausgereisten Techniker des Orchesters seien gemeinsam mit russischen Helfern vor Ort daher bereits fieberhaft mit dem Aufbau des Instrumentariums beschäftigt. Der geplante Transfer zum Hotel für Dusche, Kostümwechsel sowie ein Mittag- oder Abendessen sei auf jeden Fall gestrichen. «Wir hoffen, dass wir vor Ort Wasser und Früchte organisieren können. Einfach nachher hurtig in die Busse einsteigen, mental auf den Auftritt vorbereiten, und bei der Ankunft sofort einstimmen.»

Aus dem Flugzeug in den Konzertsaal?

Zwei Stunden vor dem offiziellen Konzertbeginn drängen sich 120 Menschen im nur wenige Quadratmeter umfassenden Flur vor dem Terminalausgang von Moskau-Sheremetjevo, dem zweitgrössten Flughafen der Hauptstadt, der pro Jahr 20 Millionen Passagiere transportiert, bereit, sich mit letzter Energie in die Shuttles zu retten. «Streicher zuerst, dann Bläser, dann der Rest des Orchesters, dann die Helfer», versuchen Theurillat und seine Assistenten verzweifelt, jede weitere Verzögerung zu vermeiden: «Sie müssen jeden Moment da sein.»

Doch auch eine Viertelstunde später fährt jeder Shuttle ohne anzuhalten an unserem Ausgang vorbei. Nach einer halben Stunde ist dann klar, dass auch die Busse am falschen Terminal stehen. Nach einer Dreiviertelstunde packen die Orchestermitglieder ihre Instrumente aus, und beginnen, sich zwischen den grauen Betonwänden und beschlagenen Glasscheiben der Ankunftshalle für ihren monatelang herbeigefieberten, grossen Galaauftritt aufzuwärmen. Nach einer Stunde verstauen die ersten Musiker ihre Instrumente schweigend wieder. Niemand erhebt einen Vorwurf oder äussert auch nur ein böses Wört, aber dennoch lässt sich die Luft fast mit dem Messer schneiden.

In allen Köpfen arbeitet es auf Hochtouren: «Gibt es noch eine realistische Chance, den Saal rechtzeitig zu erreichen? Darf man an so einem wichtigen Anlass überhaupt auftreten, ausgehungert und dehydriert, ungewaschen, unkostümiert – und vor allem: komplett unvorbereitet? Und erst noch: an einem völlig unbekannten Ort? Andererseits: Darf man ein so wichtiges Konzert platzen lassen, nach all den bisher überwundenen Hürden und Hindernissen? Was hätte eine Absage für Konsequenzen? Welche Folgen ein komplett verpatzter Auftritt?»

Ab in den Stau

Endlich taucht ein einziger Bus auf. Beim Einsteigen werfen die Streicher ihren wartenden Kollegen fragende Blicke zu. Diese zucken mit den Schultern. «Das Gute ist: schlimmer kann es nicht kommen», übt sich ein Mitglied in Galgenhumor. «Bist Du dir da sicher?», fragt seine Kollegin mit noch düsterem Unterton zurück. Kurz vor sechs treffen auch die restlichen Busse ein. Doch die Barriere ist zu klein, um das Flughafenareal Richtung Autobahn zu verlassen. Nach einigen vergeblichen Manövern fährt man eine grosszügige Schlaufe und steuert den nächsten Exit an. Zwanzig nach sechs erreichen wir die Autobahn ins Zentrum.

«Meinst Du, es reicht noch?», frage ich Aleksander, den Bratschisten, der auffällig wortkarg neben mir sitzt. «Rechtzeitig, meinst Du?», gibt er mit hochgezogenen Brauen zurück. Ich nicke. Er zieht die Brauen noch höher: «Hast Du noch nie von der Jaroslawer Chaussee gehört? Von der Rush-Hour auf der MKAD?»  Er schüttelt den Kopf und schliesst die Augen. «Ja, damit bist du wohl nicht die einzige hier», meint er resigniert: «Leider.»

Es dauert keine Minute und ich verstehe, was er meint. Bewegten wir uns die letzten Kilometer zumindest noch im stockenden Kolonnenverkehr Richtung Stadt vorwärts, geht es nun höchstens noch im Schritttempo voran. Kurze Zeit später biegen wir in Zeitlupe auf eine der Einfahrten zur Moskauer Ringautobahn ein. Links und rechts, oben und unten gibt es weitere Schneisen mit jeweils ungefähr zehn Spuren. Und ausnahmslos alle stehen an Ort und Stelle.

«Wie lange dauert es denn ohne Stau, um von diesem Punkt hier ins Zentrum zu kommen?», will eine Kollegin von Uszynski wissen. «Von hier aus theoretisch vielleicht so 20, 25 Minuten – wenn es keinen Verkehr hätte», mutmasst er: «Aber das wird es natürlich in der Realität gar nie geben. Wieso, wie spät haben wir jetzt?» Die Kollegin blickt auf ihre Uhr: «Es ist Viertel vor sieben.»

In diesem Moment halten auch unsere Sitznachbarn hörbar den Atem an. «Und was ist mit der geplanten Radio- und Fernsehübertragung, was machen die jetzt?», mischt sich ein weiterer Kollege ein. «Wir sagen ihnen einfach, es gäbe eine kurzfristige Programmänderung: Wir spielen heute Abend statt Raskatov und Schnittke 20 Mal John Cages 4’33”», scherzt jemand. Alle lächeln müde. 

Nach und nach steigen aus dem rotschwarzen Nachthimmel nicht mehr bloss riesige Industriegebiete, blinkende Leuchtreklamen und Fabrikhallen, sondern erste Wohnviertel auf. Wobei: Wohnlich wirken die Aussenbezirke der mit 11 Millionen Einwohnern aus allen Nähten platzenden Mega-City, der mit Abstand grössten Stadt Europas, nicht wirklich: Gigantische Plattenbau- und Hochhaussiedlungen, um riesige, menschenleere Plätze gruppiert, die von monumentalen Skulpturen dominiert werden. Aus ihrer Mitte ragen oft glänzende, zylindrige Bauten empor, die teils an Wachtürme mittelalterlicher Festungen, teils an Minarette mahnen, tatsächlich aber oft als Einkaufszentren, Verbindungsbrücken zu den umliegenden Gebäuden oder Lifte zu unteriridischen Parkhäusern und Metrostationen dienen. Überall wird gebaut, werden alte Planungsleichen durch Hightech-Architektur ersetzt.

Schliesslich hat sich der mit Agglomeration je nach Schätzung zwischen 15 bis 20 Millionen Menschen beherbergende Moloch grad eine «Südwesterweiterung» unvorstellbaren Ausmasses gegönnt: Der Geheimplan, der vom Moskauer Bürgermeister mit Putin und Medwedew persönlich ausgeheckt worden sein soll, hat zum Ziel, das Problem der flächenmässigen Überbevölkerung zu entschärfen. So sollen neue Luxus-, aber auch Mittelschichtsquartiere und ein russisches Silicon Valley entstehen. 

Die Eingemeindung von 1500 Quadratkilometer Umland erhöht die Population der Gesamtstadt zwar ’nur‘ um 230’000 Einwohner, aber um fast das Eineinhalbe der bisherigen Fläche. Die Betroffenen wurden allerdings nicht nach ihren Präferenzen gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestelllt.

Mit ihren in der Dunkelheit rubinrot glänzenden Spiegelglasfassaden verströmen gerade die neueren Hochhausviertel eine bedrohlich-düstere Erotik, als stünden hier aufgereiht riesige Mahnmale aus Blutdiamanten. Ein panoptisches Panorama wie aus einem Science Fiction Film: faszinierend, beängstigend, beklemmend.

Je mehr sich unser Bus dem Zentrum nähert, desto surrealer wird die Silhouette der Stadt: Zwischen endlos erscheinenden, monumentalen Häuserkomplexen aus der Sowjet-Ära und futuristisch in den Himmel ragenden Wolkenkratzern der Gegenwart schieben sich die bunt gezwirbelten Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirchen, und ergeben im Gesamtbild einen merkwürdigen Flickenteppich unterschiedlicher Kulturen und Epochen, die einzig ein schier unbegrenzter, fast grössenwahnsinniger Wachstumswille, eine Symbolik der Stärke und Machtdemonstration verbindet. Gleichzeitig durchschneiden unvorstellbar grosse Autobahnen mit einem Dutzend Fahrspuren die Stadt an all ihren Ecken und Enden.

Wenn St. Petersburg trotz ihres Geistreichtums, trotz ihrer Intellektualität und aller distinguierten Ästhetik zeitgleich stets eine unterkühlte Rationalität ausstrahlt, der Subtext einer auf dem Reissbrett entstandenen Stadt der nördlichen Metropole eingeschrieben bleibt, so umgibt Moskau, wo neben-, über- und durcheinander Gebäude wie Pilze aus dem Boden zu spriessen scheinen, den Ruch einer unbezähmbaren Wildheit, so dass einem unvermittelt (trotz der natürlich auf Höchststufe laufenden Heizung) kalte Schauer über den Rücken laufen.

Eine komplette Anderswelt also, ein unberechenbarer, omnipotenter, explosiver Bastard, welcher dem gemeinsamen Schoss von Europa und Asien entsprungen sein mag, den herkömmlichen, ihn in die Schranken weisen wollenden Grenzen seiner Herkunft aber nie auch nur den geringsten Wert beimass, sondern sie von Anfang an ohne zu Zögern überschritt, um sich in der Mitte breit zu machen – und von da aus in alle Richtung weiterzuwuchern. Und sollte irgendwo tatsächlich störendes Unkraut zu wuchern beginnen, hätte er keinerlei Probleme, diese mit einer riesigen Sichel und einem beherzten Schlag auszureissen oder durchzusäbeln, um eine weitere Schneise für noch mehr Strassen, Dynamik, Wachstum, also schlicht: Platz zu schaffen.

Einen Tag Pufferzeit einplanen

Eher erschlagen von den ganzen Moskauer Dimensionen sind dagegen natürlich die von der Stadt eingeladenen Orchestergäste, die trotz ihres hochoffiziellen Auftrags nicht die für Regierungs- und Parlamentsmitglieder reservierte Sonderspur nutzen können, und sich darum im Schneckentempo fortbewegen. Dass die schiere Grösse und weltweit berüchtigte Verkehrssituation der Stadt bei der Planung zumindest von russischer Seite nicht besser, respektiver kritischer eingeschätzt wurde, kann Aleksander nicht verstehen: «Von Beginn weg, auch ohne Schnee und Demos wäre dies ein sehr ehrgeiziger Zeitplan für eine solch unsichere Ausgangslage. Mindestens einen Tag hätten sie als Puffer zwischen die Konzerte einbauen müssen: Sonst macht ein solch aufwändiger Austausch einfach keinen Sinn.»  Manch einer im Bus nickt, und versucht gleichzeitig, seinen Frust runterzuschlucken und den geplatzen Auftritt abzuhaken, nach dem fatalistischen Motto: Das Schicksal hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Doch mitten in die gedrückte Stimmung platzt ein unerwarteter Anruf des Bosses höchstpersönlich: Man habe den Zielort Tschaikowski-Saal mittlerweile nicht bloss mit der Vorhut, sondern auch mit dem ersten Bus erreicht, der zweite sei soeben eingetroffen. Gleichzeitig habe man alles unternommen, um das ausverkaufte Haus noch etwas bei Laune und vom Gehen abzuhalten. Dafür müssten die letzten Neuankömmlinge beim Eintreffen ebenfalls alles Menschenmögliche unternehmen, um so schnell wie sie nur könnten mit ihren Instrumenten auf der Bühne zu stehen: «Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.»

Sofort erwacht der Bus aus der bisherigen Schockstarre zu neuem Leben – ja, feiert eine eigentliche Renaissance. Hektisch werden Instrumente und Habseligkeiten gepackt, und als der Bus kurz darauf auf die Zielgerade, den Triumfalnaja Ploschad einbiegt, stürzen sich die Musiker richtiggehend aus dem Bus zum Gebäude, wo sie sogleich durch einen Seiteneingang in die Garderobe und dort auf die grosse Bühne weitergelotst werden. Einen Augenblick lang droht Chaos auszubrechen, soviele Menschen aufs Mal versuchen so schnell wie möglich an allen anderen vorbeizukommen, um nach ungefähr drei an den Autositz gefesselten Stunden die letzten verbleibenden Sekunden zu nutzen, um in der Garderobe das Gepäck zu verstauen, einen Schluck Wasser zu trinken, in ein Stück Brot oder Apfel zu beissen, oder endlich die Toilette aufzusuchen: für mehr reicht die Zeit den meisten Mitgliedern nicht mehr.

Konzertbeginn nach 13 Stunden Reise

Nach der 13-stündigen Reise machen sich bei Einzelnen die überstrapazierten Nerven beim Drängeln, Fluchen oder ein paar gehässigen Worten bemerkbar, doch bei der überwiegenden Mehrheit der Musiker herrscht bis zum letzten Moment eine fast übermenschliche, stoische Selbstdisziplin, als sie ohne jegliche Vorbereitung, Kostüm, unfrisiert und ungeschminkt sowie körperlich und psychisch völlig erschöpft auf die komplett unbekannte Bühne hasten, wo Techniker und Helfer versuchen, aus dem Stand jedes Mitglied wenigstens so rasch wie möglich an den passenden Platz zu lotsen.

Mit über zweistündiger Verspätung ertönen dann kurz nach neun Uhr Abends unverhofft doch noch die ersten Klänge von Raskatovs «Mysterium Magnum». In den ersten Takten flirrt die Luft im Saal richtiggehend vor Anspannung. «Wenn das nur gut geht», werden in diesem Moment wohl unzählige Menschen gleichzeitig denken. Doch dann ist der Einstieg geschafft, und bereits nach erstaunlich kurzer Zeit schwindet die Unsicherheit – und macht absoluter Konzentration Platz. Wenn das Sinfonieorchester Basel an diesem Abend in Moskau eines demonstriert, ist es seine beinahe unerschütterliche Professionalität: abgesehen vom ungewöhnlichen Aufzug und Tenue lassen sie sich nichts anmerken.

Einem hundertköpfigen Ensemble, das bereit ist, unter derart widrigen Umständen ein dermassen gewagtes Werk wie Raskatovs «Mysterium Magnum» aufzuführen, beweist verblüffende mentale Stärke. Wenn es dann gleichzeitig noch einen hohen Level an Qualität zum Besten geben kann, gebührt – von den eigenen Hörpräferenzen völlig abgesehen – schlicht maximaler Respekt.

Kein Wunder glänzen die Augen von Geschäftsleiter Theurillat und Präsidentin Schneider an diesem Abend vor lauter Stolz über ihre Schützlinge. Doch auch das russische Publikum, von dem sicherlich Dreiviertel ausgeharrt haben, darf sich für sein Steh- und Durchhaltevermögen auf die Schulter klopfen. Abgesehen von vereinzelnten Abgängen im letzten Drittel von «Mysterium Magnum», die wohl in erster Linie einem langen Heimweg geschuldet sind, zeigen sich die Moskauer Zuschauer von Beginn weg von ihrer besten Seite und spenden nach dem ersten Teil kräftig Applaus. Auch die weiteren Mitglieder der Schweizer Delegation starten an diesem Abend eine veritable Charme-Offensive und verteilen in der Pause grosszügig CDs und Infomaterial an die erfreuten Besucher.

Nach der Pause, in der sich das Orchester zumindest kurz ausruhen und besinnen konnte, liefert Bashmet wiederum ein eindrückliches Zeugnis seiner ausserordentlichen Fähigkeiten ab, als er sich Schnittkes Violakonzert nun scheinbar mühelos vollends zu eigen macht. Erst im Nachhinein erfahren wir, dass Publikumsliebling Bashmet die Zuschauer seiner Wahlheimat zuvor fast während der gesamten zweistündigen Wartezeit beherzt mit spontanen Rezitals und Werkgesprächen bei der Stange gehalten hatte. Das Moskauer Publikum jedenfalls feiert die tapferen Basler Gäste ausgiebig und herzlich: Bereits die Tschaikowsky-Ouvertüre erhält eine erste Standing Ovation, Bravorufe und Blumen. Und nach ihrer aufgrund der bereits gelösten Stimmung hinreissend-mitreissend gemeisterten Schostakowitsch-Zugabe mutieren die Musiker für die Anwesenden endgültig zu den stürmisch gefeierten Helden des Abends.

Und dann wird’s emotional

Entsprechend emotionale Szenen spielen sich im Anschluss im Backstage-Bereich ab: Während manche Musiker vor Erschöpfung beinahe kollabieren oder einander überschwänglich in die Arme fallen, entschuldigt sich die junge Geigerin Veronika Durkina mit den Tränen kämpfend für die vielen Hindernisse, Rückschläge und unglücklichen Umstände, welche diese Konzertreise geprägt hatten. «Es tut mir so leid und ist mir so peinlich, dass das ausgerechnet in meiner Heimat passiert ist», wiederholt sie mehrfach, auch wenn alle ihre Kolleginnen sie zu trösten versuchen, dass sie da ja wirklich nichts dafür könne.

Wie unglaublich unglücklich sich die Ereignisse des Tages rückblickend trotz aller minutiösen monatelangen Vorbereitung überschlagen hatten und wie beeindruckend das Orchester diese Prüfung gemeistert hat, dämmert den meisten Teilnehmern wohl erst auf der Busfahrt ins Hotel. So etwas habe man in all den Jahren noch nie erlebt, sind sich Musiker, Orchesterleitung und Präsidentin durchs Band einig: «Eine unglaubliche Geschichte.» Wie wenig gefehlt hätte, um diesen kulturellen Grossanlass in letzter Sekunde zum Scheitern zu bringen – und für alle Beteiligten einen Scherbenhaufen unbekannten Ausmasses zu hinterlassen – dürfte wohl manchen Teilnehmer der Konzertreise noch eine Weile beschäftigen.

«Es war eine absolute Nervenprobe», bilanziert auch Janice Di Biase, Bratschistin und (so der Schein nicht trügt) auch ein wenig die gute Seele des Orchesters, und bringt damit auf den Punkt, was viele denken: «Ich denke aber, diese Grenzerfahrungen können auch positive Effekte haben und ein Orchester noch viel stärker zusammenschweissen.» Dies zeigt sich sogar schon ganz unmittelbar, nach der Ankunft im Hotel, wo immerhin ein Dutzend Leute trotz des kräftezehrenden Tages beschliessen, in den paar verbleibenden Stunden vor dem Rückflug noch gemeinsam den Roten Platz zu besichtigen. «Das haben wir uns verdient, das lassen wir uns nicht nehmen», pflichten alle einander bei: «Denn wie der heutige Tag ja eindrücklich bewiesen hat, weiss man ja nie, wie das Leben spielt, und ob man nochmals eine Chance erhält.»

So kommt es, dass um halb drei Uhr nachts eine kleine Gruppe Basler trotz Glatteis und Kälte inmitten das menschenleeren Roten Platzes steht, zwischen dem legendären Kaufhaus GUM, der atemberaubend bunt in den Nachthimmel wachsenden Türme der Basilius-Kirche und dem Kreml als der drei Wahrzeichen dieses so widersprüchlichen Landes der Extreme. Und ob der unglaublichen Weitläufigkeit ihrer Umgebung, der Faszination jenes unbeschreiblich symbolträchtigen Ortes und des unwirklichen Zaubers dieses Moments sowie der Tatsache, nach den Geschehnissen des Tages diese Eindrücke gemeinsam teilen zu dürfen, ein wenig ergriffen sind. «Was für ein Tag, was für eine Stadt, welch ein Abenteuer!», bringt Aleksander Uszynski es auf den Punkt.

Erst auf dem Nachtspaziergang zurück zum Hotel wird mir klar, wie sehr die beiden gespielten Kompositionen von Raskatov und Schnittke das russische Lebensgefühl einfangen, Land und Leute verkörpern, und wie viele Parallelen zwischen den Werken und den Geschehnissen der letzten Tage bestehen. Wir beschliessen spontan, als versöhnlicher Abschluss des Aufenthalts in einem der 24-Stunden-Restaurants, die traditionelle Gerichte im Gewand gegenwärtiger Urbanität servieren, eine Suppe essen zu gehen. Gegen die allgegenwärtige Kälte, gegen die eigene Erschöpfung und gerade ausdrücklich wegen ihrer herausragenden Rolle als russisches Nationalgericht. Eine sehr gute Idee, wie sich herausstellt: Wenige Minuten später bekommen wir ein geschmacklich bis zur Perfektion ausbalanciertes Kunstwerk serviert.

Eine Frage der Dosis

Alles eine Frage der Dosis, des Masses und der Balance, fällt mir auf: Wie dies unser Wahlbasler Visionär schliesslich schon vor vielen Jahrhundert völlig richtig erkannt hat. Das Ausbalancieren der uns umgebenden Extreme, ist es nicht genau das, was Basel im kulturellen Austausch liefern kann? Ist dies vielleicht sogar das eigentliche «Mysterium Magnum», das unsere russischen Komponisten genauso fasziniert hat wie den Basler Arzt und Mystiker? «To Paracelsus», ruft jemand einige Tische weiter. Ich glaube, vor lauter Müdigkeit bereits Geister zu hören. Doch tatsächlich sitzt, wie der Zufall es will, nur einige Meter weiter Yuri Bashmet und feiert sein furioses Heimspiel mit Moskauer Freunden.

Als er uns sieht, winkt er uns zu sich und lädt uns ein, mit ihm noch ein paar Runden mitzufeiern. Doch wir lehnen dankend ab und machen uns stattdessen auf den Heimweg ins Hotel. Von den Champagnerflaschen über die Architektur bis zu den Kompositionen, ist hier, im Kulturraum Moskau, alles «Magnum», stelle ich auf den letzten Metern fest: Überlebensgross, bombastisch, masslos.

Möglicherweise bleibt Russland unserem an Kompromissen, Ausgeglichenheit und dem goldenen Durchschnitt orientierten Paracelsus-Denken genau deshalb ein «Mysterium» – genauso faszinierend und fremd wie den Russen unsere trotz aller äusseren Einflüsse unerschütterlich stabile, professionelle und pragmatisch funktionierende Willensnation. Nur sechs Stunden später landen wir ohne Probleme in Basel. Das Thermometer zeigt 10 Grad, der Blick über die Stadt einen blauen Himmel, in der Ferne blitzt am Horizont die Sonne zwischen Quellwolken hervor. Mysteriös ist daran nichts – aber dafür herrschen exzellente Sichtverhältnisse bis zum Schwarzwald und in den Jura. Vielleicht ist «City of Vision» doch ein gar nicht so falscher Titel für Basel, überlege ich: Eine Kulturstadt, die ein so visionäres Festival wie «Culturescapes» ihr Eigen nennt.

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