«Fremde Richter» werden die Juristen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschimpft. Die Zustimmung zu Menschenrechten schwindet. Dabei schützen sie die Bürger dort, wo ihnen sonst keiner hilft. Erleben wir einen Niedergang der Menschenrechte?
Die Glas-Silos wirken, als seien sie nicht von dieser Welt. Und genauso ausserirdisch wirken die Urteile, die hier gefällt werden. Ein homosexueller Mann verklagt den französischen Staat, weil er laut Gesetz kein Blut spenden darf. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gibt ihm Recht: Homosexuelle dürfen nicht pauschal von Blutspenden ausgeschlossen werden, weil ihr Aids-Risiko durchschnittlich höher ist.
Es ist ein Beispiel, bei dem der Gerichtshof in Strassburg den Schwächsten hilft. Kein anderes Gericht der Welt verteidigt die Menschenrechte in diesem Ausmass – ein Unikum in der Geschichte. Und doch hat der EGMR einen schweren Stand in der Bevölkerung. Schweizer Politiker schlagen einen Austritt vor, Grossbritannien will die Urteile aus Strassburg nicht mehr einfach so hinnehmen. Was ist nur los mit den Bürgern? Sind ihnen die Menschenrechte nichts mehr wert?
Haarentferner wird zum Politikum
Die Bundeshauptstadt Bern liegt nur etwa 200 Kilometer von Strassburg entfernt. Und doch liegen Welten dazwischen. «Landesrecht vor Völkerrecht» tönt es aus SVP-Kreisen, gewettert wird gegen die «fremden Richter» aus Strassburg. Die andere Seite wirft den Rechten «politisches Kalkül» vor, so die Schweizer Richterin in Strassburg, Helen Keller, im TagesWoche-Interview.
Gehen wir einen Schritt zurück. Was wird in Strassburg eigentlich entschieden? Es gibt eine Menge an Beispielen – alles, was die allgemeinen Menschenrechte in einer gewissen Form betrifft. Ein kurioser Fall: Der Kosmetikhändler H.A. erhält 1981 einen Anruf aus der sowjetischen Botschaft in Bern. Die russische Angestellte möchte einen Haarentferner bestellen. Es klingt harmlos, ist aber von höchster politischer Brisanz, denn es ist Kalter Krieg. Die sowjetische Botschaft wird vom schweizerischen Geheimdienst überwacht – und der Geheimdienst nimmt H.A. als Spionageverdächtigen auf einen Index.
Jahre später gibt die Staatsanwaltschaft Zürich die Akten frei. H.A. liest über sich selbst: «Als Kontaktmann zur russischen Botschaft identifiziert.» Er will die Akten sofort sperren lassen und fordert Schadenersatz für die ungerechtfertigte Überwachung. Die Schweizer Gerichte lehnen beides ab. Dann zieht H.A. vor den EGMR, sein «Recht auf Achtung des Privatlebens» sei verletzt worden. Und die Strassburger Richter geben ihm Recht: Die schweizerischen Geheimdienstgesetze seien unklar definiert, die Schweiz muss H.A. Schadenersatz zahlen.
So entstand aus einem Zufall ein juristischer Datenschutzfall. Und wo die Gerichte in der Schweiz an ihre Grenzen stiessen, kam der EGMR zum Zug. Alex Sutter von humanrights.ch nennt das EGMR eine «Absicherung für alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Schweiz haben». Es gehe um die «Korrektur von Einzelfällen», sagt Sutter.
Die Schweiz steht bei den Menschenrechtsverletzungen nicht vorne auf der Liste. Russland, die Türkei und andere Staaten werden am häufigsten von Strassburg gerügt. Doch es kommen trotzdem einige Beschwerden aus der Schweiz. 1210 Beschwerden hat das Gericht 2013 beurteilt. Davon wurde nur ein Bruchteil als gültig erklärt. Am Ende gab es 13 Urteile zur Schweiz, in neun Fällen sahen die Strassburger Richter eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Bundesgericht in Lausanne hatte diese Fälle zuvor anders beurteilt als die Strassburger Richter. Ein Vorgang, der im Rechtssystem häufig passiert: Ein Gericht entscheidet nach gewissen Kriterien, ein überinstanzliches Gericht kommt zu einem anderen Schluss.
Der «fremde Richter» ist auch eine Schweizerin
Für einige Politiker ist es geradezu unerträglich, dass das letztinstanzliche Urteil ausgerechnet aus dem Ausland kommt. «Es braucht aus Sicht der SVP keine an das Bundesgericht nachgelagerte weitere ‹fremde Instanz›», erklärt SVP-Parteipräsident Toni Brunner.
«Fremde Richter», «fremdes Recht» sind die Kampfbegriffe, die gegen Strassburg ins Feld geführt werden. Der Menschenrechtsexperte Sutter hält das für einen politischen Schattenkampf. «Es wird eine historische Analogie zu fremden Richtern bemüht, die so gar nicht existiert.» Denn: Die Menschenrechtskonvention ist Teil des Schweizer Rechts und die Strassburger Richter werden von den Mitgliedstaaten des Europarats gestellt. Es ist also eine Schweizer Richterin – Helen Keller – die die Fälle mitbeurteilt.
Der Europarat hat so wenig mit der EU zu tun wie Fussball mit Astrologie. Im Europarat sitzen alle europäischen Länder, mit Ausnahme Weissrusslands. Es ist ein Club ohne politisches Mandat, ein loses Forum für Austausch und Zusammenarbeit. Eine der wichtigsten Instanzen ist der EGMR, der keine effektiven Verurteilungen aussprechen darf, sondern nur Verletzungen der Menschenrechtskonvention feststellt.
Kampf mit Begriffen
Was über den EGMR immer wieder in den Medien breit ausgetreten wird, sind Einzelfälle aus der Migrationspolitik. So war dieser Tage etwa zu lesen, ein Ecuadorianer dürfe in der Schweiz bleiben, obwohl das Bundesgericht entschied, ihn wegen kleinerer Delikte auszuschaffen. Der Mann hat Frau und Kind in der Schweiz. Die Strassburger Richter entschieden deshalb, das Kind dürfe nicht ohne den Vater aufwachsen. Die Delikte gewichtete das Gericht als geringfügig.
Nun stürzten sich einige Zeitungen auf den Fall. «Der Gerichtshof in Strassburg hat wieder einmal zugeschlagen», schrieb die SVP-nahe Weltwoche. Der Fall wurde als «Asylbetrug» abgetan.
In sachlicher Juristen-Sprache nennt man den Entscheid: Güterabwägung. Das Wohl des Kindes wurde in diesem Fall über die Sicherheitsvorkehrungen gestellt – ganz einfach. In anderen Fällen entschied das Strassburger Gericht, dass Ausschaffungen gerechtfertigt waren.
SVP droht mit Kündigung
SVP-Chef Toni Brunner empfindet es als «stossend», dass der EGMR die «Ausschaffung krimineller Ausländer» verhindert. Im Jahr 1974, als die Schweiz beitrat, hätte niemand geahnt, «was die betreffenden Rechtsprechungsorgane alles aus der EMRK ableiten würden», meint Brunner. Insoweit sieht er eine Ausweitung der Kompetenzen; der Gerichtshof würde die Menschenrechtskonvention immer breiter auslegen und so vom «Kerngehalt» abrücken.
Seit zwei Jahren prüft die SVP nun eine Volksinitiative zum Thema «Landesrecht vor Völkerrecht». Die «Kündigung der EMRK ist eine Option bei den laufenden Arbeiten an einem Initiativtext, aber nicht die Hauptstossrichtung», sagt Brunner auf Anfrage.
Die Drohung einer Kündigung stösst vielen Politikern sauer auf. SP-Nationalrat Andreas Gross meint: «Die SVP zeigt damit, wie sehr sie bereit ist, zivilisatorische Errungenschaften der vergangenen 70 Jahre infrage zu stellen, und welch totalitäres Verständnis von Demokratie sie sich zu eigen macht.»
Der Basler FDP-Nationalrat Daniel Stolz sieht dahinter «eine Profilierungsübung für die kommenden Wahlen». Die Menschenrechtskonvention sei «ein wichtiges Fundament für den liberalen Rechtsstaat», weshalb auch die FDP daran festhalten wolle.
Falls die Bevölkerung über einen Austritt aus der Menschenrechtskonvention abstimmen würde, sieht Stolz durchaus Chancen für die SVP-Initiative. Gross hält es hingegen für «unwahrscheinlich», dass die Initiative durchkommen würde.
Abgesehen davon, ob eine Initiative zustande kommt: Die Debatte über Menschenrechte ist längst lanciert. Ausschaffungsinitiative, Schutz vor Pädophilen, Minarett-Verbot, lebenslange Verwahrung – alles angenommene Abstimmungen der letzten Jahre, die gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip oder gegen die Menschenrechte verstossen. Das Volk hält es offenbar nicht mehr so eng mit den Menschenrechten. Die Ausschaffungsinitiative verstosse gar gegen das zwingende Völkerrecht, warnen Politiker und Experten.
Entfernen wir uns also immer mehr von Menschenrechtsstandards? Kann man gar von einem Niedergang der Menschenrechte sprechen? Nein, meint SP-Urgestein Gross. Man könne nicht von einem Niedergang sprechen, weil es «in der Schweiz noch nie ein grosses positives Bewusstsein für die Menschenrechte» gegeben habe. Gross meint, dass wir gerade in privilegierten Ländern, wie der Schweiz oder Dänemark, ein «Wiedererstarken des Nationalismus» erleben. Und das führe dazu, dass «übernationale Errungenschaften und Einrichtungen wie die EMRK und der EGMR infrage gestellt» würden.
Sein Parteikollege aus Baselland, Claude Janiak, ist überzeugt, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip immer mehr unterwandert werde – «mit unabsehbaren Folgen».
«Spiel mit dem Feuer»
Warum erleben wir keinen Protest in der Bevölkerung, wenn Grundsätze des Rechtsstaats infrage gestellt werden? «Sehr vielen Menschen in der Schweiz geht es zum Glück gut», sagt Silvia Schenker, SP-Nationalrätin aus Basel. «Und solange es einem gut geht, bleibt der Begriff ‹Menschenrechte› etwas abstrakt.» Wie schnell sich diese Situation jedoch ändern könne, sehe man momentan an der Ukraine-Krise.
Menschenrechtsexperte Sutter nennt die Debatte um einen Austritt aus der EMRK «ein Spiel mit dem Feuer». Mit Slogans wie «Landesrecht vor Völkerrecht» sehe die SVP «eine Chance, bei Leuten Stimmen zu holen, die davon keine Ahnung haben. Es gibt Partei-Strategen, die vorgeben eine Ahnung zu haben, und diejenigen Wähler, die sich davon leiten lassen.»
Wenn die Schweiz tatsächlich aus der Menschenrechtskonvention austreten würde, wäre das «ein Reputationsschaden erster Güte», so Janiak. Die Schweiz stünde auf einer Ebene mit Weissrussland, ein Austritt würde ein falsches Signal an diejenigen Länder schicken, die niedrige Menschenrechtsstandards haben.
Das Ufo aus Strassburg bleiben vorerst stehen. Damit es so bleibt, braucht es eine breite Zustimmung der Bevölkerung – in der Schweiz, Montenegro, Litauen, Russland. Helen Keller ist überzeugt, der Gerichtshof werde auch die nächsten 20 Jahre überdauern, «und er wird nötiger sein denn je».