Vor hundert Jahren teilten Briten und Franzosen im Sykes-Picot-Abkommen den Nahen Osten unter sich auf und betrogen die Araber um ein versprochenes Grossreich. Um die Auswirkungen auf die Gegenwart zu verstehen, müssen wir die Sicht «der anderen Seite» zumindest zur Kenntnis nehmen.
Der Erste Weltkrieg ist seit fast 100 Jahren vorbei und das Gedenken an seinen Ausbruch liegt schon wieder beinahe zwei Jahre hinter uns. Was dieser Krieg an Konsequenzen hatte, ist im Mainstream-Narrativ auf Westeuropa beschränkt – und da ist vor allem das vergiftete Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland eingehend erörtert worden – und irgendwie abgehakt.
Dieser Krieg hatte und hat aber auch gravierende Folgen für Osteuropa und für den Nahen Osten; Folgen, die uns gelinde gesagt noch heute beschäftigen und auch in Zukunft beschäftigen werden. In diesen Tagen hat sich das am 16. Mai 1916 abgeschlossene Sykes-Picot-Abkommen zum hundertsten Mal gejährt.
Sykes-Picot-Abkommen? In Syrien und im Irak ist dieses Abkommen real und in den Köpfen heute noch weit präsenter als in Grossbritannien und Frankreich, in deren Namen es unterzeichnet worden war. Der Islamische Staat nimmt mit Parolen auf Fahnen und in Videos für sich in Anspruch, diesem Abkommen endlich ein Ende bereiten zu wollen. Und Masud Barzani, Präsident des kurdischen Teilstaats im Nordirak, hat sich kürzlich ebenfalls zu diesem Abkommen geäussert: Er hat es als einen «hundertjährigen Fehlschlag» bezeichnet und sogleich noch beigefügt, dass es zu einem weiteren hundertjährigen Scheitern kommen werde, wenn nicht neue Grenzen gemäss dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker gezogen würden.
Die Hauptakteure
Die namengebenden Chefunterzeichner dieser Übereinkunft von 1916 waren: Mark Sykes, schriftstellernder Militär, Parlamentarier und Diplomat, der 1919 mit nur 40 Jahren an der Spanischen Grippe sterben sollte, als er in Paris die neue Weltordnung mitverhandeln wollte. Und François Georges-Picot, 1870 in Paris geboren und mit 80 Jahren dort gestorben, war als Generalkonsul in Beirut nur vorübergehend mit dem Vorderen Orient befasst und schon ab 1920 Botschafter in Bulgarien und später Argentinien.
Je nach Interpretation könnte neben den beiden dem breiten Publikum unbekannten Männern ein dritter Mann wichtig gewesen sein, der mit 46 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben kam: der dank der grossen Kinowelt sehr bekannte Thomas Edward Lawrence «von Arabien», britischer Offizier, Oxfordabsolvent, Archäologe, Geheimagent und Schriftsteller. Seine Unglücksmaschine ist heute im Imperial War Museum zu besichtigen. Und Archäologen der Uni Bristol haben inzwischen im arabischen Wüstensand eine Patrone gefunden, die beweisen soll, dass sich Lawrences mythologische Aktivitäten wie überliefert zugetragen hätten.
Sykes und Picot unterzeichneten im Mai 1916 ein von längerer Hand vorbereitetes Abkommen, das eine Unterteilung der erwarteten Erbmasse des osmanischen Reiches vorsah, teilweise mit direkter Herrschaft in Form von Protektoraten, teils mit indirekter Herrschaft in sogenannten Einflusszonen.
Die Aufteilung
Die Briten als die initiativere und stärkere Seite beanspruchten eine südliche Zone mit dem heutigen Jordanien, dem Irak und der Sinai-Halbinsel. Frankreich durfte die Südost-Türkei, den Nordirak, Syrien und den Libanon beanspruchen. Ein Zwischenstück an der Mittelmeerküste, unter anderem mit Jerusalem, sollte eine internationale Zone bilden.
Für die Briten sollte die Präsenz in dieser Region vor allem die Verbindung nach Indien sichern. Und den Franzosen war die Gegend seit den Kreuzzügen wichtig. Hinzu kam ein typisches Motiv des Kolonialismus: Wenn sich die Briten bedienten, wollten die Franzosen, die hier ein «zweites Tunesien» einrichten wollten, nicht zurückstehen.
Zwischen den britischen und französischen Kerngebieten hätte, schwach definiert, auch ein Gebiet liegen sollen, das man «den Arabern» zusprach. Diese waren mit dem Versprechen, hier ein panarabisches Königreich errichten zu können, ermuntert worden, gegen das osmanische Regime zu revoltieren. Der Aufstand sollte das Osmanische Reich schwächen, das ein wichtiger Verbündeter des Hauptgegners Deutschland war.
Die Westmächte sicherten ihre Lage mit weiteren sogenannten «Spoil Treaties» (Raubverträgen), indem sie Russland die Kontrolle über den Bosporus und Italien die ägäische Inselgruppe des Dodekanes versprachen. 1917 kam ein weiteres Versprechen hinzu: Die berühmte Balfour-Deklaration sicherte der zionistischen Bewegung eine «Heimstätte» in Palästina zu. Darum geriet auch die anfänglich internationale Zone unter britische Zuständigkeit.
Der betrogene König
Das imperiale Gebaren kümmerte sich in keiner Weise um die kulturellen und ethnischen Gegebenheiten vor Ort. Symbol dieser Rücksichtslosigkeit ist die im Abkommen von 1916 vorgenommene Grenzziehung mit dem Lineal, wie man sie aus der in Afrika betriebenen Kolonialpolitik kennt. Eine «definitive» Grenzziehung erfolgte allerdings erst in Verhandlungen nach 1918.
Die arabischen Wortmeldungen zum 100. Jahrestag des Sykes-Picot-Abkommens zeigen, dass wir in zunehmendem Masse unsere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit anderen teilen und auch die Sicht «anderer Seiten» mindestens zur Kenntnis nehmen müssen, wie sie etwa von Al Jazeera, gewissermassen dem arabischen CNN, vermittelt wird. Dazu gehört auch eine bereits 2014 auf Englisch erschienene Biografie über König Faisal I. Ihr Autor ist Ali Allawi, der in den Jahren 2003 bis 2006 Iraks Handels-, Verteidigungs- und dann Finanzminister war und mit der Würdigung Faisals auch zu verstehen gab, was der heutige Irak nötig hätte.
König Faisal I. von Irak verstand es, dem jungen Staat so etwas wie eine nationale Identität zu geben.
Faisal I., dritter Sohn des Mekka-Scheichs Hussein, sollte an der Spitze des versprochenen arabischen Grossreichs stehen. Er musste sich aber mit einem Thron im heutigen Syrien begnügen, von wo ihn die Franzosen jedoch schnell verjagten, weil er den «Arabischen Aufstand» im anfänglichen Sinn zu Ende führen wollte. Die Briten installierten ihn darauf im Irak und seinen Bruder Abdullah in Jordanien.
Allawi will mit der Biografie verschiedene Vorstellungen revidieren: Insbesondere will er zeigen, dass Faisal nicht einfach ein Handlanger der Briten war, vielmehr ein besonnener Architekt des modernen Irak. Faisal, kein «Iraker», sondern zunächst ein Fremder, verstand es, dem jungen Staat mit seiner aus Schiiten, Sunniten, Kurden, Christen und Juden zusammengesetzten Bevölkerung so etwas wie eine nationale Identität zu geben.
Auch befürwortete Faisal eine zionistische Heimstätte, weil er davon ausging, dass dies der Verwirklichung der arabischen Ansprüche helfen würde. In einem im Januar 1919 zwischen Emir Faisal und dem späteren Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizmann, getroffenen Abkommen stimmte die arabische Seite der Herauslösung Palästinas aus dem arabischen Königreich und der Existenz eines jüdisch-zionistischen Staates grundsätzlich zu, sofern die Araber ihr angestrebtes Reich bekommen.
Der britische «Held»
Welche Rolle spielte Lawrence? Der arabischen Kultur eng verbunden und dem Haschemiten-Scheich Hussein von Mekka nahestehend, nahm der Offizier eine Schlüsselposition in dem von den Briten finanzierten und munitionierten Aufstand ein. Der militärische Beitrag war allerdings bescheiden, viel wichtiger war, dass die Übernahme der osmanischen Erbschaft nicht als antiislamisch erschien. Lawrence war aber von Skrupeln geplagt, als er von dem Geheimabkommen erfuhr, das den grössten Teil der Konkursmasse unter den beiden westeuropäischen Kolonialmächten aufteilte und für das versprochene Grossreich wenig übrig liess. Er lehnte deswegen alle Ehrungen ab, bekannte in seiner Autobiografie aber: «Better we win and break our word than lose.»
Lawrences Bedeutung ist heute umstritten. Der amerikanische Journalist Lowell Thomas machte aus ihm 1919 den Helden, wie er uns aus dem mit sieben Oscars ausgezeichneten Hollywood-Epos von 1962 mit Peter O’Toole, Alec Guinness, Anthony Quinn, Omar Sharif und so weiter bekannt ist. Thomas prägte mit seinen hundertfach wiederholten, von Militärkapellen und Schleiertänzen begleiteten Filmvorträgen in der ganzen angelsächsischen Welt das Geschichtsbild zum britischen Feldzug und arabischen Aufstand.
Die Auswirkungen in der Gegenwart
Was haben diese Geschichten mit heute zu tun? Sie legen den Gedanken nahe, dass es, gelinde gesagt, besser gewesen wäre, wenn die imperialen Mächte den Gegebenheiten vor Ort mehr Rechnung getragen hätten. Für das Terrorregime des Islamischen Staats ist das zunächst versprochene, 1916 aber verratene «Kalifat» gewiss eine willkommene Bezugsgrösse. Die reale Entwicklung läuft mittlerweile aber eher auf eine weitere Unterteilung der bestehenden Nationalstaaten hinaus, auch wenn sich in ihnen inzwischen ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat.
Die Sykes-Picot-Grenze war sicher eine falsche Grenze, eine richtige hätte es aber nicht geben können. Was es gab und geben kann, sind bessere und schlechtere Regime, die das eine oder andere in dem Masse sind, als sie der ethnischen und religiösen Buntheit der auf ihren Territorien lebenden Bevölkerung Rechnung tragen oder nicht.
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