Das viel zu kurze Leben der Rozerin Çukur

Ein Schulmädchen liegt in Diyarbakir seit einem Monat erschossen in einem Haus. Ihre Leiche können die Eltern nicht holen. Denn in der Altstadt führt der türkische Staat Krieg – wie in vielen anderen Städten im Südosten des Landes.

Die Mütter streiken und trauern gemeinsam um ihren Verlust in einem Zimmer des örtlichen Menschenrechtsvereins.

(Bild: Hilal Seven)

In der inoffiziellen Kurdenhauptstadt Diyarbakir liegt ein Schulmädchen seit einem Monat erschossen in einem Haus. Ihre Leiche können die Eltern nicht holen. Denn in der Altstadt führt der türkische Staat Krieg – wie in vielen anderen Städten im Südosten des Landes.

Ein neues Toledo soll es werden, verspricht Ahmet Davutoğlu dieser Tage vor verdutzten Zuhörern. Die Altstadt von Diyarbakir will der türkische Regierungschef wieder aufbauen lassen, schöner und grösser, wie die Hauptstadt Kastiliens nach dem spanischen Bürgerkrieg.

Nur ein Detail hat der ehemalige Politikprofessor Davutoğlu vergessen: Vor dem Wiederaufbau wurde Toledo von Francos Truppen erobert. Spaniens Faschisten machten aus der langen Schlacht um Toledo 1936 einen Propagandasieg. Kein Vergleich, den die regierenden Konservativ-Religiösen in der Türkei von Ahmet Davutoğlu und Staatschef Tayyip Erdogan eigentlich wollen.

Und noch kämpft die türkische Armee ja mit Panzern und Artillerie gegen die Bewaffneten in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der Kurden im Südosten des Landes. So wie sie in einem Dutzend anderer mehrheitlich kurdischer Städte kämpft. Jede Woche verliert sie Soldaten und bringt die Zivilbevölkerung gegen sich auf. Tragische Geschichten vergiften das Leben zwischen Kurden und Türken im Land, Geschichten wie die von Rozerin Çukur, dem Mädchen, das in Diyarbakir zwischen die Fronten kam.



Unübersehbar: Die Spuren des Krieges in Diyarbakir.

Unübersehbar: Die Spuren des Krieges in Diyarbakir. (Bild: Hilal Seven)

Für die Scharfschützen war Rozerin Çukur eine Terroristin, eine der jungen Kurdinnen, die eine Waffe in die Hand nehmen und in der Altstadt von Diyarbakir gegen den türkischen Staat kämpfen. Für ihre Mutter war Rozerin nur ein 16-jähriges Schulmädchen, das eine Freundin besuchen wollte. «Sie war so klug. Ich wollte dabei sein, wenn sie ihr Diplom von der Universität bekommt», sagt die Mutter und weint.

Fahriye Çukur hält ein gerahmtes Bild ihrer Tochter in den Händen. Es ist das offizielle Schulfoto, das Gesicht einer jungen Frau mit langem schwarzem Haar und dem suchenden Blick eines Teenagers. Rozerin trägt ihre hellblaue Schuluniform mit dem roten Emblem der türkischen Republik. So wie an dem Tag, als sie nach Suriçi ging, der engen, verwinkelten Altstadt von Diyarbakir.

In einem dieser Häuser könnte die getötete Rozerine Çukur liegen.

Die türkische Regierung dagegen verspricht immer wieder den Sieg in der Stadt. Ende Februar soll es nun so weit sein. «Sie können das», sagt Metin Gürçan, der Sicherheitsexperte. «Aber die Frage ist, was danach kommt. Ist der militärische Sieg genug?» Gürçan empfiehlt eine andere Strategie, er macht Anleihen beim zeitweise erfolgreichen Konzept der US-Armee in Afghanistan und im Irak. Auf die Zivilisten, die in den Städten festsitzen, sollte sich die türkische Regierung konzentrieren.«Deren Herzen muss man gewinnen, um auch diesen Konflikt zu gewinnen.»

Ahmet Davutoğlu, der Regierungschef, versucht es auf seine Weise. Er verspricht den Kurden in Diyarbakir den Wiederaufbau, sein strahlendes Toledo.



Die Zivilbevölkerung bezahlt den höchsten Preis für den Konflikt.

Die Zivilbevölkerung bezahlt den höchsten Preis für den bewaffneten Konflikt. (Bild: Hilal Seven)

An der Stadtmauer von Diyarbakir, nicht weit vom Dağ Kapi, einem Tor, wo die Panzer der Armee stehen, wartet ein junger Kurde auf seinen Freund. Ahmet bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung zur Universität vor. Er will Psychologie studieren, so wie Rozerin, das erschossene Schulmädchen.

Zehn Tage ist es her, da ging er aus dem Haus in seinen Vorbereitungskurs für die Prüfung. Als er abends zurückkommt, ist auch in seinem Viertel plötzlich Ausgangssperre. Ahmet verbringt die Nacht in einer Zelle auf der Polizeiwache – als potenzieller Terrorist. Das ist das Los der Kurden in der Türkei, sagt Ahmet, ein sanfter junger Mann, und verabschiedet sich mit diesem fürchterlichen Satz: «Wenn niemand stirbt, wird es hier keinen Frieden geben.»

«Die Regierung weiss es genau», sagt ein Händler aus der Altstadt. «Sie muss an den Verhandlungstisch zurückkommen.»

Nicht zufällig ähnelt die kurdische Abkürzung der «Selbstverteidigungskräfte» jener der YPG-Miliz in Syrien. Die hat sich an der Grenze zur Türkei ein eigenes Stück Kurdistan gegen die Islamisten erkämpft: Rojava. Für die Türken ist das der Albtraum. Die Zerstückelung des Landes, autonome «Kantone», wie sie die jungen Bewaffneten in den Städten schon ausgerufen haben, das will die Regierung verhindern. Und dafür scheint ihr jedes Mittel recht.

Doch mehr als drei Jahre hat Ankara mit den Kurden der PKK verhandelt. Zunächst geheim, dann in einem offiziellen Rahmen. Bis im Sommer 2015 der Friedensprozess zusammenbrach. Wie viele in Diyarbakir glaubt deshalb auch Ihsan Seviktek, der Händler aus dem Altstadtviertel, an eine Lösung, aller Toten zum Trotz. «Die Regierung weiss es genau», sagt er. «Sie muss an den Verhandlungstisch zurückkommen.»

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