Der amtierende Ministerpräsident Winfried Kretschmann kommt in Baden-Württemberg nach wie vor sehr gut an. Das liegt vor allem daran, dass er immer wieder aufs Neue Rückgrat bewiesen hat.
Hätten die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg die Möglichkeit, den Ministerpräsidenten direkt zu wählen, die Sache wäre gelaufen: 72 Prozent der Menschen sähen den amtierenden Winfried Kretschmann gerne weiter im Amt. Der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland findet also mitnichten nur im rot-grünen Milieu Unterstützung. Selbst ansonsten treue CDU-Wähler unterstützen ihn.
Wer das Phänomen dieser enormen Zustimmung verstehen will, muss nur kurz nach Zürich schauen. Dort hat Kretschmann im September 2012 eine Art Regierungserklärung abgegeben. Nicht im Sinne eines Arbeitsprogramms, dessen Vorstellung gehört in das Parlament. Aber bei seinem mehrtägigen Besuch in der Schweiz hat Kretschmann an der Universität Zürich eine Rede gehalten, die auf besondere Weise deutlich macht, was ihn bewegt, was ihn zur Politik gebracht hat und was die Grundlage seines Handelns ist. Es ist seine spezielle Ethik der Verantwortung.
Konsequent…
Kretschmann setzte sich in dem Vortrag mit der Schweizer Philosophin Jeanne Hersch auseinander, mit ihrem Begriff von Freiheit, ihrem Verständnis von der Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen, aber auch den Pflichten, die sich aus der Freiheit ergeben. «Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung», zitierte er Hersch. Und der freie Mensch habe die Pflicht, sich in den Lauf der Dinge einzumischen: «Die einzige Verabredung, die unsere Freiheit mit der äusseren Welt hat, ist das Jetzt.» Die Geschichte kennen, ja, aber nicht darin weiterleben. Und nicht von der Zukunft schwärmen, sondern die Gegenwart gestalten.
Nun ist es nicht so, dass diese Rede in Deutschland viel beachtet worden wäre. Aber in ihr legt Kretschmann dar, wofür er steht. Er hat gegen den Bau des Tiefbahnhofes in Stuttgart gekämpft. Aber nachdem die Volksabstimmung anders ausgefallen war, legte er der Bahn keinen Stein mehr in den Weg. Dafür musste er sich von den einstigen Weggefährten viele böse Worte gefallen lassen. Er sehe sich in seinem Amt auch an Beschlüsse gebunden, die er nicht teile, sagt Kretschmann.
Das gilt auch für ein Thema, das bei seiner Klientel besonders emotional diskutiert wird. Das Land hat im vergangenen Jahr doppelt so viele abgelehnte Asylbewerber abgeschoben wie im Jahr 2014. Lokale Initiativen werfen der grün-roten Regierung Verrat an alten Idealen vor. Kretschmann hält konsequent dagegen, er sei dem Rechtsstaat verpflichtet. Zugleich setzt er ein Zeichen und holt 1000 jesidische Frauen nach Baden-Württemberg, die von IS-Terroristen drangsaliert und missbraucht wurden. Alle Kosten, auch für die psychologische Betreuung, übernimmt das Land.
…und unverbiegbar
Kretschmann ist selbst Lehrer und Gewerkschafter. Aber mit keiner Gruppe geriet er so über Kreuz wie mit ihnen. Er könne nun mal den Landeshaushalt nicht in Ordnung bringen und Schulden abbauen und den grössten Posten, die Gehälter, aussparen. Und er könne bei den Gehältern nichts kürzen, wenn er die grösste Gruppe, die Lehrer, ausnehme. Dafür wurde er bei Gewerkschaftstagen ausgepfiffen. Er lenkte zwar in einigen Punkten ein, blieb aber seiner Linie treu: Das sei seine Pflicht gegenüber künftigen Generationen.
Diese Grundhaltung hat dem Ministerpräsidenten im Laufe der Jahre viel Respekt und Wertschätzung eingebracht. Wertschätzung auch in dem Sinne, dass da jemand regiert, der über ein solides Wertefundament verfügt, über einen Kompass. Und der sich danach richtet – ohne sich durch kurzfristige Stimmungen von seinem Kurs abbringen zu lassen. Und da dieser Kurs zudem eher grün-konservativ ist, scheint er für die Mehrheit besonders gut zu dem Land zu passen.