Nur wenige scheint es zu beschäftigen, was derzeit mit der Demokratie passiert, weshalb sie uns langsam aber sicher abhanden zu kommen scheint.
Der Demokratie geht es schlecht. In Polen und in der Schweiz scheint sie von Angst besetzt zu werden, in der Türkei erodiert sie zugunsten einer autoritären Autokratie, nach den portugiesischen Wahlen war von ihrer «Entsorgung» die Rede. Einer der wenigen, die sich den Erfahrungen mit der Demokratie in Europa zuwenden, ist der französische Historiker und Politologe Pierre Rosanvallon (67).
Letzten Samstag wurde er für sein umfangreiches, leider nicht ins Deutsche übersetzte Werk von der Uni Neuenburg zum Ehrendoktor erkoren. Dieses umfasst vor allem die Trilogie mit den bezeichnenden Titeln «Le Sacre du Citoyen» (Das Heil des Bürgers), «Le Peuple introuvable» (Das unauffindbare Volk) und «La Démocratie inachevée» (Die unvollendete Demokratie). Seine Grundsatzthese, die sein ganzes Werk präge, lautet in den Worten des «Le Temps»-Journalisten Richard Wehrly so: «In einem System zu leben, das sich Demokratie nennt, heisst noch nicht, demokratisch regiert zu werden.»
Nach der Lektüre von Rosanvallons neuestem Buch «Le bon Gouvernement» (Die gute Regierung, 2015) könne man eigentlich gar nicht anders, als über den Zustand unserer Demokratien schwer beunruhigt zu sein, schreibt Wehrly. Rosanvallon selbst präzisiert im Interview: «Die Geschichte der Demokratie ist diejenige einer permanenten Krise und von stets frustrierten, enttäuschten Bürgerinnen und Bürgern.»
Die Demokratie ist gleichzeitig Utopie und politisches Projekt
Schon 2007 hatte er in einem Gespräch über seine Publikation «La Contre-démocratie» (Untertitel: Die Politik im Zeitalter des Misstrauens) auf eine andere Frage die gleiche Antwort gegeben, sie aber begründet und vertieft: «Die Demokratie ist deswegen gleichsam in einer permanenten Krise, weil sie gleichzeitig eine Utopie und ein politisches Projekt ist. Ihre Geschichte ist deshalb nicht zu trennen von einem ständigen Prozess, sich um die Demokratie zu bemühen, sie zu erproben und dabei ständig enttäuscht zu werden.»
Diese Enttäuschungen seien, so Rosanvallon, die Folge des uneingelösten Versprechens der Demokratie, das Allgemeininteresse, das Interesse aller, den Gemeinsinn, zu verwirklichen. Dies sei wiederum die Konsequenz von zwei Entgleisungen der Demokratie: «Einerseits die Konfiskation der Demokratie durch die Mechanismen der Oligarchie; andererseits deren Auflösung in einer Form der populistischen Macht.»
Die Entmachtung der Demokratie ist auch eine Folge davon, dass Autonomie und Gestaltungsmacht des Nationalstaates in einer globalisierten Wirtschaft relativiert werden.
Die Konfiskation der Demokratie durch das Geld der Reichen brachte der New Yorker Professor Burt Neuborne in seinem Buch über den ersten Zusatzartikel (Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit) folgendermassen auf den Punkt: «Die Superreichen bestimmen die nationale politische Tagesordnung, wählen die Kandidaten für Parlament und Präsidentschaft aus, finanzieren deren Kampagnen … und geniessen dann nach den Wahlen das Privileg, mit ihren Anliegen jederzeit im Parlament oder in der Verwaltung Gehör zu finden; der Rest von uns schlägt sich zwischen den von den Superreichen Auserwählten irgendwie durch.»
Zum Wesen des Populismus erklärte Rosanvallon schon vor vier Jahren in «Le Monde», wir dürften ihn nicht auf seine Form der Demagogie und der schrecklichen Vereinfachungen reduzieren. Vielmehr sei er eine Verknüpfung der Ernüchterung gegenüber allem Politischen – eine Folge der schlechten Vertretung in Regierung und Verwaltung – und einer totalen gesellschaftlichen Verwirrung in der Folge aller ungelösten sozialen Probleme; beides wiederum verbunden mit dem allgemeinen Gefühl der absoluten Ohnmacht und dem scheinbaren Fehlen einer Alternative.
Die Demokratie retten heisst, Probleme zu lösen statt zu bewirtschaften
Eine dritte Dimension zur Begründung der Erosion der Demokratie wird von US-amerikanischen und französischen Sozialwissenschaftern auffallend vernachlässigt und unterschätzt. Der Zürcher Historiker Jakob Tanner nennt sie in einem Interview in der «Zeit» vom 29. Oktober: Die Entmachtung der Demokratie sei auch eine Folge davon, dass Autonomie und Gestaltungsmacht des Nationalstaates in einer globalisierten Wirtschaft relativiert würden.
«Wichtig ist weiter, dass die Schweiz in einem harten Standortwettbewerb steht. Das hängt mit der Organisation der Weltwirtschaft zusammen: mit einer nochmals gesteigerten Kapitalmobilität, mit zunehmender weltweiter Ungleichheit, mit steigender Staatsverschuldung und der Suche nach sicheren, rentablen Anlagemöglichkeiten. Das alles gibt Grossunternehmen und Finanzmärkten eine enorme Entzugsmacht gegenüber dem Nationalstaat, die demokratisch nicht legitimiert ist», sagt Tanner.
Die Konsequenz: Die Demokratie retten heisst, sie transnational neu zu verfassen. Sodass der Wille der Menschen wieder die Macht erhält, der Wirtschaft neue Rahmenbedingungen zu setzen, in denen die sozialen Probleme gelöst und nicht einfach bewirtschaftet werden können. Nur so können wir wieder das Gemeinwohl ins Zentrum der Demokratie stellen, was die Menschen wieder zu sich finden liesse und ihre Entfremdung voneinander überwinden könnte.