Während in St. Gallen Menschen gegen Lohnkürzungen demonstrieren, hält man in Basel Rückblick auf fiktive und effektive Demonstrationen: «City of Change» in St. Gallen und die «Stadt des Winters» in Moskau. Zwei Städte, zwei Filme, eine Performance und eine Diskussion laden am Sonntag, 18. November, in Rahmen von Culturescapes in die Kaserne.
Soll die Kunst sich wieder politisch begreifen, oder muss die Politik ihre Kunst überdenken? Im letzten Sommer übte man am St. Galler Theater neue Demokratieformen – im Spiel. Das «Internationale Institut für Politischen Mord» wollte der Politikverdrossenheit entgegenarbeiten. Zu diesem Zweck wurden während einer vierwöchigen Veranstaltungsreihe in St. Gallen eine virtuelle Stadtregierung gebildet, fiktive Konferenzen einberufen, echte Roundtables zu echten Themen anberaumt, fingierte Thesen ausgerufen, und vor allem: wenigstens für ein paar Stunden die politische Welt im Theater auf den Kopf gestellt. Nicht die Politik sollte den Ton angeben, sondern der Ton für eine neue Politik gefunden werden. Wenn das auch nicht immer gelang, so offenbarten die politischen Verwirrspiele immerhin für die Theaterzuschauerinnen Entertainment-Qualitäten.
Milo Rau, ein Agent Provocateur des Theaters
Milo Rau, einer der Köpfe hinter den Aktionen, hat sich in den letzten Jahren als Agent Provocateur zum Spezialisten für angewandte Irritationen gemausert. Wenn er in St.Gallen den Lehrermord und seine Folgen für das Zusammenleben mit Ausländern thematisierte, oder, wenn er kürzlich in Weimar versuchte, des Massenmörders Anders Breijviks morbide Weltauffassung als Defizitkiller in der Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen zu nutzen, brachte er sich (beabsichtigt?) in Erklärungsnöte. Es ist ohnehin weniger Aufklärung denn verweigerte Erklärung, die oft den Motor seiner Projekte ausmachen.
Missverständnisse als Anfang des Verständnisses
Das Verfahren glückt dann, wenn, wie in St.Gallen passiert, ein SVP-Politiker ausgerechnet die Veranstaltung verbieten lassen will, die er als Sprecher der Gegenseite mitgestaltet. Da zeigt sich die Wirkungsbreite, die Milo Raus theatrale Provokationen ausmachen – immer sind sie medienwirksam, oft verstörend, meist schaffen sie eine neue Aufmerksamkeit. Missverständnisse sind bewusst gewollt und bilden den Anfang allen Verständnisses.
Was da so zwischen Erklärungsnot und Aufklärungsnotwendigkeit pendelt, wird auch in «City of Change», dem Projekt, das nun in der Kaserne recycelt wird, klar: Die fast fiktive Bürgerregierung «City of Change » ernannte im Sommer St. Gallen zu einer utopischen Metropole, u.a. mittels einer provokativen Forderung nach dem Ausländerstimmrecht. Das traf auf zutiefst demokratieferne Reflexe der realen Bürger: «Was für ein Stuss! Was soll das denn sein, eine Demokratie, wo die ganze Bevölkerung mitreden soll!», argumentierten aufgebrachte Gegner.
Verwirrspiel mit dem Initiativrecht
Indem die eingesetzte Stadtregierung für die 30 Prozent Ausländer, die in St. Gallens Demokratie nichts zu sagen haben, das Stimmrecht forderte, schliff sie eine alte linke Bastion und verwirrt auch Altlinke. Mit der Forderung, Politiker seien nicht mehr zu wählen, sondern durch Los zu bestimmen, griff man auf eine alte griechische Tradition (der Privilegierten) zurück, und traf prompt auf heftigsten Widerstand. Mit jeder Verwirrung legte die Veranstaltung andere Defizite im demokratischen Diskurs frei. Auch mit dem Initiativrecht wurde ein Verwirrspiel betrieben: Die «Initiative für die Wiedereinführung der Rassengesetze» stiess auf Verblüffung und doch auf entsetzlich wenig Widerstand. Es ist eben ein Merkmal von virtueller wie echter Demokratie, dass auch über Stuss nachgedacht werden darf.
Entwurf einer Gegenwelt
Vier Wochen lang wirkte das Kunst-Parlament, entwarf mit jenen, die an der Macht nicht teilhaben, eine Gegenwelt, repräsentierte Dissidenz und provozierte Widerspruch, tadelte die «Regierung» das «Volk»und belobigte es auch, weckte St. Galler Diskussionslust und spielte uneingeübte Demokratie ausserhalb der normierten Bahnen. Nichts blieb bei den Alten. Ist das genug für die Jungen?
Das «City of Change»-Video will uns nun berichten, wie vor einem Jahr am Theater St. Gallen das Demokratiespiel gespielt wurde. Was im Film davon berichtet wird, ist als Reportage höchstens informativ. Als Dokumentarfilm fehlt «City of Change» allerdings ein Verfahren, wie es zum Beispiel Chris Marker angewandt hatte, oder wie Baron Cohen es lustvoll zelebriert, wenn er «Regierung» spielt. So dokumentiert der Film bloss das Stürmchen im Wasserglas, anstatt die Reibungsstellen der theatralen Aktion filmisch zu interpretieren.
- Kaserne, Basel, Sonntag, 18. November: «Demokratien im Stresstest». Um 13 erhält man den vergleichenden Blick nach Moskau in Form des Films «Winter, Go Away!».
- Um 16.30 Uhr referieren dann: Dirk Baecker (Soziologe), Ueli Mäder (Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel) und Yury Saprykin (Philosoph, Journalist und Publizist) mit anschliessender Diskussion (Milo Rau und Anton Seregin) über Demokratien im Stresstest.
- 19.30 Uhr ist das «Joseph Beuys Theater Moskau» und «teatr.doc» mit «Demokratie.doc» zu sehen. Da darf auch Basel mit den Moskauern zusammen Demokratie im performativen Labor entdecken.