Den Schweizer Wutbürger gibt es nicht

Spätestens seit dem fulminanten Ja zur Abzocker-Initiative soll auch der Wutbürger in der Schweiz heimisch geworden sein. Das muss bezweifelt werden. Es ist ein Sieg gewöhnlicher kleinlicher Konservativer.

Kann man sich so vorstellen: den Schweizer Wutbürger. (Bild: Nils Fisch)

Spätestens seit dem fulminanten Ja zur Abzocker-Initiative soll auch der Wutbürger in der Schweiz heimisch geworden sein. Das muss bezweifelt werden. Es ist ein Sieg gewöhnlicher kleinlicher Konservativer.

Der Abstimmungstag zur Ab­zocker-Initiative wird als Feiertag in die Geschichte des Schweizer Stimmbürgers eingehen. Endlich hat er aller Welt die Vorzüge der direkten Demokratie vor Augen geführt. Hat einen Missstand korrigiert, wozu die Parlamentarier nicht fähig waren. Hat bewiesen, dass er mehr kann, als Asylbewerber und Andersglaubende zu drangsalieren.

Der hässliche, unanständige Schweizer hat sich, schwups, in ein euro­päisches Vorbild verwandelt. «Spiegel online» schrieb: «Das politische Establishment in anderen Ländern Europas wird gut daran tun, sich die Schweizer Lektion zu Herzen zu ­nehmen.» Eine märchenhafte Geschichte.

Auch der urbane Linke pfeift vergnügt sein Liedchen und hört das gesamte Land im Chor, selbst die rückständigen Inner- und Ostschweizer singen mit. Endlich finden auch seine Anliegen Mehrheiten, werden die Stellschrauben des Wirtschaftssystems neu justiert. Und das Lus­tigste: Die an den Hebeln der Maschine erhalten einen Tritt ins Gemächt, aber mal so richtig.

Betört von so viel Happy End ­blinzelt er in die sonnige Zukunft, nun da der Testlauf durch ist, die Schweizer nachweislich nicht mehr bereit sind, sich vom bürgerlichen Wirtschafts­filz manipulieren und ausnutzen zu lassen.

Alle Träume werden wahr

Auch wenns eine unvollkommene, vielleicht wirkungslose Initiative ist, mit der unser urbaner Linker nicht so richtig warm wurde (weil er den Ak­tionär für genauso verdächtig hält wie den Manager), stimmt ihn doch das Zeichen zuversichtlich: Jetzt kann es auch mit der 1:12-Lohn­ini­tiative klappen, dem Mindestlohn, der Erbschaftssteuer vielleicht. Träume werden wahr und erst noch alle auf einmal. Allein: Soll mans glauben?

Im In- und Ausland mutmasst man, dass der Beginn dieser Zeitenwende mit der Ankunft einer neuen Spezies in der Schweiz zusammenfällt: Der Wutbürger hat sich breitgemacht.

Dieser Wutbürger ist Deutschlands erfolgreichstes Exportprodukt seit Lidl. Erschaffen hat ihn «Spiegel»-Autor Dirk Kurbjuweit in seinem Essay gleichen Titels vom 11. Oktober 2010. «Eine Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft: Das ist der Wutbürger», leitete Kurbjuweit seinen Artikel ein. Anlass waren die Bürgerproteste gegen den Bahnhofneubau in Stuttgart und die irre ­Sarrazin-Debatte.

Der hässliche, unanständige Schweizer hat sich in ein europäisches Vorbild verwandelt.

Einmal da, verbreitete sich der Wutbürger viral. Er besiedelte Europa, pöbelte an einer Mautstation in Portugal, forderte den Rücktritt der bulgarischen Regierung in Sofia. ­Die Fortpflanzung erfolgte rasant, 2011 ­infiltrierte er China, wo er laut der «Süddeutschen Zeitung» («Chinas Wutbürger») vor dem Büro des Staatsanwalts von Fuzhou gar eine Bombe zündete (onine nicht verfügbar).

Wo immer demonstriert wurde, frustrierte Bewohner Dampf ablies­sen, schienen Wutbürger am ­Werke. Was sie eint, ist ihr Gestus: Die lassen sich das nicht mehr gefallen. Das adelte sie, befremdete aber auch. Da schien eine neue Bewegung, unberechenbar und hysterisch. Was eine undifferenzierte Betrachtung erlaubte: Wutbürger, kennen wir ja.

Auch deshalb vermuteten die Schweizer Medien lange, Wutbürger gibt es überall auf der Welt, aber ­sicher nicht hier. Vor der Abstimmung zur Ausschaffungsinitiative ­betonte Patrick Müller, Chefredaktor des «Sonntags», die ungünstigen ­klimatischen Bedingungen für diesen kurligen Protestler in den hiesigen Gefilden (online nicht verfügbar).

Müller beschwor den «Sonderfall Schweiz». «Die Schweizer sind reife Stimmbürger», stellte er fest, «anders als die Wutbürger in Deutschland.» Weil die Schweizer rationale, gar mitunter unpopuläre Entscheide treffen würden, sei eine Sensation möglich bei der Ausschaffungsinitiative, hoffte Müller und meinte damit ein Nein auf dem Stimmzettel.

Es kam anders. Eine Mehrheit stimmte der groben Vorlage zu und man konnte nur zu einem Schluss kommen: Wir sind vielleicht gar nicht besser als die anderen, doch nur ­unreife Wutbürger.

Von Ausländer bis Abzocker

Dass nun derselbe Wutbürger bejubelt wird, sollte Skepsis wecken. Wie lässt sich in Einklang bringen, dass der gleiche Stimmende in der einen Abstimmung seinen blinden Zorn ­dokumentiert und jetzt plötzlich Mut und Weitblick offenbart? In Basel war der Nein-Anteil zur Abzocker-Initiative höher als im Waldenburgertal.

Von A bis A, vom Ausländer bis zum Abzocker, der Wutbürger lässt nichts aus. Die Abneigung richtet sich immer gegen den­jenigen, der gegen den Schweizer Code verstösst. Oder zumindest den Anschein erweckt. Kujoniert wird, wer draussen steht, sich erhebt oder auch nur nebendurch will.

Das ist kein Aufstand wie in Stuttgart, wo gegen eine vermeintlich rücksichtslose und uneinsichtige ­Regierung und Bahn protestiert wird. Es ist nicht David gegen Goliath.

Hier sind keine Wutbürger bei der Arbeit. Es sind Schrebergärtner, denen die Rasenhöhe des Nachbarn nicht passt. Zöllner, die an der Grenze das beim Metzger gekaufte Fleisch abwägen, damit kein Gramm zu viel ins Land kommt.

Sie handeln noch nicht einmal aus Neid, es ist eine Massregelung der­jenigen, die aus­scheren. Deshalb hat ein Vasella, der irgendwo im Orbit schwebt, genauso wenig mit Verständnis zu rechnen wie ein Mustafa, der IV bezieht: Die riechen beide irgendwie anders.
Der vermeintliche Wutbürger Schweizer Prägung ist ein klassisch kleinlicher Konservativer. Er rüttelt nicht an einem System – er zementiert sein eigenes.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.03.13

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