Vor 30 Jahren galt der Islam noch als exotischer Farbtupfer, heute weckt er oft Ängste.
Das Glockengeläut der nahen Clara-Kirche liesse sich nur schwer fotografieren, und es bestünde auch kaum ein Interesse daran, weder beim Fotografen noch beim Publikum. Aber der Muezzin im Kasernenareal – das ist ein anderer Fall. Bei der erstmaligen Publikation dieses Bildes vor 30 Jahren (1983) ist denn auch von «Faszination» die Rede, die noch immer bestehe, obwohl der Muezzin von hier aus bereits seit elf Jahren (1972) ruft, und zwar fünfmal am Tag in Richtung Mekka.
Das Lokal hat kein Minarett – kein «Türmli», aber es hat eine im Neonlicht erstrahlende Inschrift: «Mescid Moschee». Falls man neugierig ist, fragt man sich, was «Mescid» bedeutet. Ein islamischer Heiliger?
Wikipedia kennt auch in diesem Fall die Antwort: «Mescid» heisst «kleine Moschee», nicht nur ohne Minarett, auch ohne Predigerkanzel, aber mit einer Gebetsnische. Dieser Ausdruck soll der Ausgangspunkt für den spanisch-portugiesischen Begriff «mesquita» und das deutsche Wort Moschee und den entsprechenden französischen und englischen Begriff sein.
Das Bild weist neben dem Muezzin und dem «Mescid»-Schild einen weiteren formalen Akzent auf, das Zelt im Hintergrund. Beduinen? Gaddafi? Wahrscheinlich ein gewöhnlicher Zirkus. Oder ein Bierfest. Schliesslich der im Sonnenuntergang oder im künstlichen Flutlicht leuchtende Himmelshintergrund.
Damals, kann man der früheren Reportage entnehmen, war das muslimische Gebetslokal ein Treffpunkt – ein kleines Mekka – für die verschiedensten Varianten religiöser Art (vor allem Sunniten und Schiiten) und nationaler und ethnischer Herkunft (Türken, Kurden, Bosnier, Kosovaren, Albaner und Nordafrikaner). Inzwischen haben sich die Treffpunkte vermehrt und differenziert.
Wie hat sich die Haltung der Mehrheitsbevölkerung gegenüber der muslimischen Minderheit inzwischen entwickelt?
Die Faszination, die einem als exotisch eingestuften Phänomen punktuell begegnete, dürfte teilweise von neuerlichem Desinteresse, teilweise von latenter oder virulenter Abwehr überlagert worden sein.
Das wirft die Frage auf, ob Andersartigkeit nur in kleinen Dosen geschätzt wird, wenn sie uns das unbeschwerte Gefühl von Vielfalt und Weltläufigkeit und grosszügiger Gastfreundschaft vermittelt.
Nicht aber, wenn die Andersartigkeit uns in grösseren Formaten gegenübersteht und von den Alteingesessenen Respekt vor ihrer Eigenart einfordert – natürlich im Rahmen der gegebenen Rechtsordnung, sofern man das erwähnen muss. Mit dem eigenen Religionsunterricht, der eigenen Kleidung, der eigenen Nahrung und – den eigenen Gräbern. Dies als Konsequenz der Tatsache, dass das «Andere» hier eben tatsächlich angekommen ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 13.09.13